Herzensach - Roman
vorbei.«
Sie sahen einander in die Augen, registrierten nicht, daß die Menge immer lauter und hitziger diskutierte, was zu tun sei, bis sich alle mit der Absicht entfernten, zu den Waffen zu greifen und Jan zu befreien. Sie küßten sich, während der Pastor die Menge aufzuhalten versuchte.
Der Arzt und der Schlachter unternahmen nur halbherzige Versuche einzugreifen, denn immer wieder wurde auch der Ruf laut, der Student sei an allem schuld. Das gefiel ihnen.
54
Es war vorbei. Aus. Endgültig.
Nie wieder würde es Jakob Finn gelingen, das Dorf so zu sehen, wie er es in jenem Augenblick gesehen hatte, als er es von der südlichen Brücke aus zum ersten Mal betrat.
Der Pastor hatte recht gehabt, das Dorf war auf schwankendem Boden errichtet, die Häuser in einem komplizierten Verhältnis zueinander erbaut. Die Menschen bewegten sich in abgezirkelten Schritten, um eine gefährliche Schräglage des Ganzen zu vermeiden.
Wie auch immer. Ende. The End. Finis.
Nie wieder würde er Katharina so sehen wie damals am ersten Tag: die abwehrende und mürrische Begleiterin, deren hübsches Gesicht er plötzlich entdeckt hatte und deren Verhalten er als Verschlossenheit Fremden gegenüber gedeutet hatte, typisch für abgeschieden lebende Dorfbewohner. Alles war falsch. Nichts hatte er begriffen, nichts verstanden.
Eine endlose Reihe verpaßter Chancen. Schluß damit!
Nie wieder würde er sich von der Idee eines einfachen und ruhigen Lebens auf dem Lande beherrschen lassen. Was sollte der Unsinn vom Gleichklang mit der Natur? Hier waren alle, wenn auch auf andere Art, genauso kaputt wie die in der Stadt.
Der Verwalter hatte recht. Mit der Arroganz des Städters war er ins Dorf getrampelt. Ohne es zu bemerken, hatte er das kunstvolle Netz, das alles im Gleichgewicht hielt, zerrissen. Alle seine Schritte, alle seine Worte besaßen in den Augen und Ohren der Herzensacher eine vollkommen andere Bedeutung. Er störte, zerstörte das Idyll, brachte Streit, Aufruhr und Mord.
Er war vollkommen fehl am Platz.
Jeder im Dorf hatte das gewußt, nur er nicht.
Vielleicht mußte er zum Opfer werden, um das Gleichgewicht des Ortes wiederherzustellen, um zu verhindern, daß die Herzensacher übereinander herfielen?
Hendrik hatte damals seine Getreuen mit nach Herzensach gebracht. Warum sollte das Dorf nicht noch immer ausschließlich aus Nachkommen der Piraten bestehen? Die Frau des Pfarrers war davon überzeugt, und sie lebte schon lange hier. Die Dörfler warteten nur auf das Startzeichen, um die im Heu versteckte Totenkopffahne zu hissen, ihre Säbel auszugraben.
War dies das Geheimnis von Herzensach? Ein Geheimnis, dessen sich nicht einmal die Bewohner bewußt waren? Hatten die Piraten sich vor fast zweihundert Jahren in dieses Tal zurückgezogen, um hier zu überleben, warteten sie seit Generationen darauf, daß eine Zeit kam, die sie wieder zu ihrem ursprünglichen wilden, blutrünstigen Leben erweckte? (Was für eine lächerliche Geschichte!)
Das Bild Katharinas, wie sie aus dem Wald trat, stand vor seinen Augen. Trug sie nicht in ihrer Freizeit ganz genau die Kleidung eines Piraten? (Na klar, alle machten hier auf Pirat! Kommt nach Herzensach zu den jährlichen Piratenfestspielen. Gastdarsteller: Jakob Finn. Sehen Sie, wie er nach Herzensach kommt, eine entsetzliche Wahrheit entdeckt, sich verliebt, gejagt wird und nichts begreift. Erleben Sie, wie er am Ende an der Rahe des Piratenschiffes gehenkt wird, das seit zweihundert Jahren im Schilf des Lichter Moors versteckt lag. Applaus. Vorhang.)
Immer spielte ihm seine Phantasie einen Streich, so auch bei Katharinas Blicken. Nicht ein Fünkchen Zuneigung war da gewesen. Von Anfang an hatte sie nur ein Ziel gehabt, nämlich das, den Gutsherrn zu heiraten.
Schluß. Aus. Vorbei.
Es wurde Zeit, daß er einen realistischen Blick auf seine Umgebung warf. Er betrachtete das Gutshaus. Ein altes Gebäude, selbst in kinderreichen Zeiten viel zu groß für eine Familie. Aber solche Gebäude sollten durch ihre Dimension nicht zuletzt Macht zum Ausdruck bringen. In dieses Haus einzuziehen war ein vernünftiges Ziel für ein Mädchen, dessen Nachname so lautete wie der Tag, an dem es gefunden worden war, Freitag, das also nichts besaß. Jan van Grunten war sicher ein wunderbarer Ehemann. Ein Jakob Finn konnte nicht mit ihm konkurrieren, auch wenn niemand hier ahnte, was ihn unterlegen machte.
Er stand von seinem Platz am Waldrand auf, sah noch einmal zum Gutshaus hinüber und stieg den
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