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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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gesagt. Und tatsächlich raubte ihm die Fräsmaschine eines Tages ein Stück vom Oberschenkel. Sein Vater wiederum hatte schon als Lehrling zwei Finger in der Kreissäge gelassen. Von jedem Timber forderte der Beruf ein Stück seines Körpers. Warum nun von Otto Timber nicht auch mal das Gehirn?
    Als der jetzige Tischlermeister Thomas ohne linken großen Zeh geboren wurde, fürchtete man eine Zeitlang, nun hätte sich der regelmäßige Verlust von Körperteilen in den Genen der Familie niedergeschlagen. Die anfängliche Panik wich einer seltsamen Hoffnung. Nicht die Ärzte beruhigten die besorgten Eltern, sondern folgender Gedankengang: Vielleicht war Thomas Timber ja wegen des bereits fehlenden Gliedes vor weiteren Verlusten gefeit! Bis heute hatte sich dies jedenfalls bewahrheitet.
    Die Möglichkeit, diese Vererbungstheorie zu überprüfen, war – wenn nicht noch etwas Außergewöhnliches geschehen würde – leider nicht gegeben: Thomas Timber war der unterste und zugleich der Höhepunkt auf der Ahnentafel. Danach würde keiner mehr kommen.
    Außer verstümmelten Vorfahren entdeckte Thomas Timber in der Ahnenreihe zwei Kunstschnitzer. Einer von ihnen war nach Bayern gegangen und dort mit seinen Heiligenfiguren zu einigem Ruhm gekommen. Diese Tradition setzte der Tischler in seiner Freizeit fort. Er kaufte eine ehemalige Anglerhütte am Lichter Moor, baute sie zu einer kleinen Schnitzwerkstatt aus und ließ niemanden mehr hinein. Nur eine einzige Arbeit, seine erste, hatten die Dorfbewohner zu Gesicht bekommen. Es war ein Relief und zeigte Jesus, wie er mit der Peitsche über die Tische der Geldverleiher schlug. Er hatte das Werk der Herzensacher Kirche gestiftet.
    Thomas Timber lächelte bei dem Gedanken an das Relief. Er verharrte vor der Werkstattür und streckte vorsichtig den Kopf hinaus. Der Student war nicht mehr auf der Straße zu sehen. Der Tischler ging hinaus, um das Eckhaus herum zum Eingang der Wohnung.
    Er erinnerte sich noch, mit welchen Worten der Pfarrer seine Arbeit in der Kirche eingeweiht hatte. Von »hoher künstlerischer Ausdruckskraft« hatte er gesprochen und von »ehrlicher, tiefempfundener Auseinandersetzung mit den Grundlagen unserer Religion«. Doch für ihn war das Relief nur eine Übung, eine Vorstufe zu den Werken gewesen, zu denen er sich wirklich berufen fühlte. Fast zwanghaft arbeitete er seitdem an seinen Figuren.
    Der Pastor hatte ihn gefragt, wann er denn wieder einmal seine Arbeit sehen könne. Ich habe alles vernichtet, hatte er geantwortet, es war nichts, was mich wirklich befriedigte. Doch, so war es wirklich. Nichts befriedigte ihn. Die Werke zerstört zu haben war allerdings eine Lüge. Es gab einen Journalisten aus Frankfurt, der ihm regelmäßig etwas abkaufte. Niemand in Herzensach durfte davon wissen.
    Der Tischler schloß die Haustür auf und hörte eine fremde Frauenstimme aus der Küche im ersten Stock dringen.
    »Petra?«
    »Thomas? Frau Wischberg ist hier.«
    Er stieg die Treppe hinauf. Die Mutter des Wirts saß am Küchentisch.
    »Tag, Luise«, sagte er, und nach einer Pause: »Die Arbeit frißt mich auf.« Er dachte, damit seinen Rückzug in die Anglerhütte vorzubereiten, doch er redete nicht weiter, denn er sah beiden Frauen an, daß sie etwas mit ihm besprechen wollten.
    »Luise ist hier, weil ...«, begann seine Frau, doch Luise Wischberg unterbrach sie. »Es geht um die kleine Wohnung über der Werkstatt, die du damals für deine Eltern ausgebaut hast. Dein Vater ist ja jetzt bei euch im Haus unterm Dach und hier auch besser untergebracht –, und die Wohnung deiner Eltern steht leer. Ich dachte, du willst die Räume vielleicht vermieten.«
    »Weiß nicht«, brummte Thomas Timber.
    »Es wäre nur für ein Jahr.«
    »Ist aber manchmal laut da, wegen der Werkstatt drunter.«
    »Ich glaube nicht, daß ihm das was ausmacht.«
    »Wem?«
    »Ein Student. Er will für seine Doktorarbeit Untersuchungen im Staatsforst machen. Er ist Biologe.«
    »Student! Nein. Kommt nicht in Frage.« Er ahnte, um wen es ging, und wollte dessen Einzug auf jeden Fall vermeiden.
    »Du bist ein Holzkopf. Das ist ein sehr ernsthafter, seriöser junger Mann, der mit Förster Franke zusammenarbeiten wird.«
    »Auch das noch, der ist auch nicht von hier.«
    »Ach, fremdenfeindlich! Unser Bürgermeister!« Die Mutter des Wirts fuhr zornig hoch, und Thomas Timber spürte, daß er sich mit seiner Antwort ins Abseits manövriert hatte.
    »Man weiß doch, wie die Studenten heute sind.« Der

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