Herzensach - Roman
dünne Humusschicht der Erde, der alles Leben entspringe, in beide Richtungen durchstoße und darüber hinausrage. Wenn man so will, eine kommunizierende Röhre zwischen zwei Ewigkeiten. Oder noch anders: Peilstab und Membran der sich über Jahrmillionen hinweg aufbauenden Erdoberfläche.
Der Brunnen war heute vollkommen trocken. Johann Jacob van Grunten hatte die Abfüllung des Herzensacher Heilwassers nicht nur wegen des Skandals um dessen giftige Bestandteile aufgegeben, sondern vor allem, weil das Wasservorkommen erschöpft gewesen war. Da eine starke natürliche Lehmschicht zwischen Fluß und Brunnen das Eindringen von Grundwasser verhinderte, bot der Brunnen für Rudolf Pedus optimale Arbeitsbedingungen.
Der Pfarrer ging mit dem Studenten zur Straße zurück. Hier befand sich hinter einer efeubewachsenen Mauer eine aufgeklappte eiserne Falltür. Treppenstufen führten hinab. Der Hund setzte sich an den Eingang, hob den Kopf und begann zu jaulen.
»Ist ja gut, Trivial«, sagte der Pastor und streichelte ihn. »Er würde niemals hinuntergehen, und er mag es nicht, wenn ich dort hineingehe.«
Der Student sah den Hund an und zögerte. »Vielleicht hat er recht?«
Rudolf Pedus ging die ersten Stufen voraus, drehte sich um und sah Jakob Finn an. »Haben Sie Angst?«
»Ein bißchen.«
»Es zeugt von Ihrer Intelligenz.«
»Oder von meiner Dummheit, wenn ich Ihnen folge.«
Die Stufen waren von unterschiedlicher Höhe und nahmen kein Ende. Als Halt gab es an der Seite nur einen durch eiserne Ösen verlaufenden groben Strick. In großen Abständen hatte der Pastor nackte Glühlampen verlegt, die mehr blendeten, als daß sie die Treppe beleuchteten.
Früher, erklärte der Pastor, habe es wohl gar keine Stufen gegeben, sondern es sei eine schiefe Ebene gewesen, um mit Steinen und Erde beladene Wagen besser heraufziehen zu können. Vier polnische Arbeiter waren beim Bau des Brunnens durch herabstürzende Erdmassen zu Tode gekommen. Ihre Leichen sollten noch immer hinter dem Mauerwerk des Schachtes begraben liegen. Das Zischen, Kreischen und Stampfen einer dampfbetriebenen Maschine riesigen Ausmaßes hatte fast zwei Jahre lang das Herzensacher Tal erfüllt.
Anfangs hatte niemand gewußt, wonach dort gebohrt wurde. Johann Jacob van Grunten hatte sich in Schweigen gehüllt. Kurze Stollen an den Seiten des Schachtes lassen sogar vermuten, daß er ursprünglich nach etwas anderem als Wasser suchte. In einer Ausgabe des ›Weinsteiner Boten‹ aus dieser Zeit findet sich ein Artikel über einen reisenden Alchimisten, der mit folgenden Worten schließt: »Der Redacteur möchte jedoch warnen, jenem seltsamen Manne zu glauben, der in den Wirtshäusern Gold aus den Taschen zieht und behauptet, dieses in der Herzensach gefunden zu haben. Mehrmals, beklagten sich Wirte, hätten sie von ihm nichts als eine Karte mit der Lage von Goldgestein in der Umgebung zur Begleichung der Zeche erhalten, was sich als vollkommen nutzlos herausstellte. «
Dieser Alchimist, dessen Name nicht bekannt ist, soll gegen Entgelt auch auf den Feldern der Bauern mit einer sogenannten Goldrute auf Goldsuche gegangen sein. Es ist vorstellbar, daß auch Johann Jacob van Grunten zu seinen leichtgläubigen Opfern zählte und die Ausschachtung anfangs der Beginn eines Bergwerks war und erst zum Brunnen wurde, als der Gutsherr merkte, einem Betrüger auf den Leim gegangen zu sein, und sein Gesicht wahren wollte.
Ein Beweis für diese Behauptung könnte jenes Goldstück in der Bibliothek des Gutshauses sein, das von Johann Jacob van Grunten stammt und, wie bereits Hermann van Grunten feststellen ließ, kein Gold ist.
In Herzensach und Umgebung, dies sei noch angemerkt, wurden zu keiner Zeit Metalle oder metallische Erze gefunden. »Der Reichtum dieser Landschaft gründet auf fruchtbaren Boden und die fleißigen Hände der Bauern«, heißt es in einer Broschüre des Kreises. Amtliche Stellen sind beim Lügen schon immer besonders glaubwürdig gewesen.
Pastor Pedus hielt inne, wartete, bis der Student herankam. Von oben hörte man das langgezogene Jaulen des Hundes, das durch den Hall mal von hinten, dann wieder von vorn zu kommen schien.
»Vorsicht«, sagte der Pastor, »hier sind einige Stufen zerbrochen.« Er griff nach Jakob Finns Hand. »Ich will Sie nicht beunruhigen, aber vor dem Krieg sind hier drinnen zwei vierzehnjährige Bauernjungen verschwunden. Ich fürchte allerdings, man hat auch nicht richtig gesucht. Die Herzensacher klettern lieber auf
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