Herzensach - Roman
Timbers lebendiges Totendasein hing ihrer Meinung nach damit zusammen, daß er eine Zeitlang Särge gebaut hatte. Und jeder, der sich noch an das Begräbnis von Thomas Timbers Großvater erinnerte, war fest davon überzeugt, daß dem alten Tischler ein Fluch oder eine Gottesstrafe auferlegt worden war.
Als Otto Timbers Vater starb, hatte der alte Tischler einen besonderen Sarg haben wollen. Kein Modell aus dem Katalog des Weinsteiner Beerdigungsunternehmens hatte ihn zufriedengestellt, so daß er schließlich für seinen Vater selbst einen Sarg zu zimmern begann. Aus unerfindlichen Gründen war geschehen, was in einem solchen Fall nicht geschehen darf: Der Sarg war zu kurz geraten, die Zeit bis zur festgesetzten Beerdigung aber nicht lang genug, um einen neuen zu bauen. Über die Ursache des zu klein geratenen Sarges gab es zwei Spekulationen unter den Dorfbewohnern. Die einen behaupteten, Otto Timber habe die Größe seines Vaters einfach geschätzt. Die anderen waren der Meinung, der Tischler sei selbst in die Falle gelaufen, die er jedem neuen Lehrling stellte: ein Zollstock, dem in der Mitte fünf Zentimeter fehlten. Er ließ sie damit zu Beginn der Ausbildung etwas ausmessen, um anschließend zu befehlen, die Leiste oder das Brett fünf Zentimeter länger zu schneiden. Folgten die Lehrlinge, so paßte das Holzstück – und Otto Timbers Autorität erreichte bei ihnen die eines Magiers. Natürlich ließ der Tischler diesen speziellen Zollstock danach solange verschwinden, bis der nächste Auszubildende kam.
Was auch immer der Grund gewesen sein mag, nun galt es, die Schande des zu kurzen Sarges zu vertuschen. Otto Timber entfernte die Polsterung. Es genügte nicht; der Kopf oder die Füße seines Vaters lagen noch immer auf der Sargkante auf. In der Nacht vor der Beerdigung ging das Licht in der Tischlerei nicht aus. Nicht nur seine Familie und die Tischlergesellen, sondern das ganze Dorf kannte die Schwierigkeit und nahm Anteil. Am Morgen aber war das Problem gelöst. Wie, das erfuhr keiner. Der Sarg war unzweifelhaft derselbe, und er schien nicht verlängert worden zu sein. Er war geschlossen, vernagelt, und die Leiche des Vaters lag nach Auskunft des Tischlers darin. Die Beerdigung konnte pünktlich stattfinden.
Obwohl der erste Sarg Otto Timbers in der Ausführung verunglückt war, begann er mit einer kleinen Sargproduktion. Seine eigene Unzufriedenheit mit den Katalogmodellen hatte ihn zu dem Schluß verleitet, vielen anderen ginge es ähnlich. Sie alle würden jene Ausführung vermissen, die er für seinen Vater entwickelt hatte: einen Sarg mit seitlich heller Holzmaserung, dessen Deckeloberseite im Gegensatz dazu mit dickem schwarzem Klavierlack versehen war; Lack, der an der Unterseite des Sarges wieder auftauchte und dort in Hunderten von kleinen Stalaktiten herabzutropfen schien. Ein außerordentliches Modell, von dem Otto Timber fünf Muster für die Ausstellungsräume großer Beerdigungsinstitute herstellte, doch keinen einzigen verkaufte. Nach zwei Jahren gab er die Sargtischlerei wieder auf.
Es blieb trotz Doktor Andrees Diagnose ungewiß, ob Otto Timbers Krankheit in den Leimen und Farben der Särge ihren Ursprung hatte. Die Vertrauensärzte der Berufsgenossenschaft wollten dies in ihrem Gutachten nicht bestätigen. Jetzt gab man ihm keine lange Lebenszeit mehr. Und da er seine eigenen Mustersärge längst vernichtet hatte, war ihm leider nur ein gewöhnlicher Sarg aus dem Katalog sicher.
Sollte Otto Timber letztlich durch das Holz beziehungsweise an den Spätfolgen der Holzbearbeitung sterben, würde er einer Tradition seiner Familie folgen.
Seit der Ansiedlung im Dorf hatten die Timbers ununterbrochen im Holz gearbeitet, anfangs sogar die Herzensach gestaut, um eine Sägemühle zu betreiben. Nachdem einer der Söhne durch das von Wasserkraft angetriebene Sägeblatt eine Hand und ein zweiter den ganzen Arm verloren hatte und daran verblutet war und wenig später bei einem Überfall Räuber den Vater mit dem mächtigen Sägeblatt köpften, sprengte der dritte Sohn die Mühle. (Nach Thomas Timbers Meinung eine übereilte Handlung.)
Die Grundmauern des Sägewerks und Reste der Stauanlage sind heute noch zu finden.
Die Familie zog ins Dorf und beschäftigte sich mit der Herstellung von Fenstern und Türen, Holzfußböden sowie gelegentlich von Schränken, Tischen und Stühlen. Trotzdem zollte jede Generation dem Holz Tribut. »Die Arbeit frißt mich auf«, hatte Otto Timber jeden Freitagabend
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