Herzensach - Roman
mitgebracht. Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Internisten, also Ihnen, und einem Chirurgen?«
»Ja, warten Sie ... wie war das?« Doktor Andree versuchte den Gutsherrn abzuschütteln. Er erinnerte sich an diese Scherzfrage, hatte aber die Pointe vergessen.
»Nehmen Sie mir nicht das Vergnügen! Hier die Antwort: Der Internist weiß alles, aber kann nichts. Und der Chirurg weiß nichts, aber kann alles.«
Er brach in helles, gickerndes Lachen aus. (Applaus auf offener Szene?) Doktor Andree konnte sich endlich aus Jan van Gruntens Griff befreien.
»Ja, ja, genauso war es. Ein Spruch, der mehr auf den Chirurgen zielt. Und bei denen trifft er zu.« Der Arzt erinnerte sich, daß der Witz noch weiterging, verschwieg aber die zusätzliche Pointe, daß Psychologen nichts wissen und nichts können, sondern entfernte sich aus der Reichweite des Gutsherrn. Sie gingen in die Bibliothek, setzten sich in die schweren Sessel neben dem alten Standglobus. Was jetzt kam, war Zeremonie. Seit fünf Jahren. Jeden Mittwoch. Doktor Andree zog am Schalter der Stehlampe und richtete ihren Schirm auf das Gesicht des Gutsherrn.
»Immer im Dienst?« forschte der Gutsherr wie jeden Mittwoch.
»Nun, Sie kommen selten in meine Praxis. Und ich mache mir Sorgen um Ihre Leberwerte.« Jeden Mittwoch.
»Ach, Doktor«, hätte jetzt kommen müssen, kam aber nicht, sondern: »Sie werden es nicht glauben, aber ich habe in der letzten Woche Ihren Rat befolgt. Kaum noch Alkohol. Und erstaunlich ist: Ich vermisse ihn nicht. Heute aber kann mich niemand davon abhalten, eine besondere Flasche zu öffnen. Wir haben etwas zu feiern. Doch was, das will ich erst verraten, wenn alle unsere Freunde versammelt sind.«
Er stand auf, ging zum Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte. Die dicken Mauern des Gutshauses wurden von der Wärme der sommerlichen Tage noch nicht durchdrungen.
Bernhard Andree war sprachlos. Ängstlich betrachtete er den Gutsherrn. Wie konnte er es nur wagen, vom Text abzuweichen!
Jan betätigte den Klingelzug zur Küche. In diesem Moment trat Johann Franke durch die Tür. Der Gutsherr eilte ihm entgegen, begrüßte den Förster ebenso herzlich wie den Arzt.
»Franke, Sie können mir glauben, ich habe in der letzten Woche häufig an Sie gedacht–und es hat mir geholfen. Erinnern Sie sich, daß Sie einmal sagten, ein großer Konferenztisch sei wie eine grasbewachsene Lichtung im Wald. Der erste, der hinübergeht, wird mit glitzernden Tautropfen an den Stiefeln belohnt.«
»Und? Waren Sie der erste, der hinüberging?«
»Nein«, der junge Gutsherr lachte übermütig. »Andere haben sich die nassen Füße geholt.« Er war sich der Wirkung seines Lachens gewiß.
Der Förster klopfte Jan auf die Schulter. »Wahrhaftig, ein Aspekt, den ich vergaß.« (Der spielte auch jede Rolle mit!)
»Und mich hat er reicher gemacht. Die Idee, mit meinem Partner Anderson eine Agentur für internationalen Tauschhandel zu eröffnen, paßt genau in die Zeit. Wir sind auf der Suche nach einem größeren Büro.«
»Gratuliere.«
Johann Franke wandte sich dem Doktor zu. Dieser ließ den kräftigen Händedruck über sich ergehen. In diesem Moment wurde Pastor Pedus von der Haushälterin hereinbegleitet.
Jan umarmte ihn. »Pedus, für jeden unserer Freunde hatte ich einen Scherz im Gepäck, für Sie nur eine betrübliche Beobachtung. Die christliche Seefahrt ist dahin. Unter den Schiffsbesatzungen haben andere Religionen die Mehrheit errungen.«
»Jeder, der untergeht, muß wissen, auf welcher Seite er wieder auftauchen will.«
»Ich habe keine andere Antwort erwartet.«
Während der Pastor die beiden anderen Gäste begrüßte, wandte sich der Gutsherr der Haushälterin zu. »Sind die Flaschen bereit?«
Sie nickte. »Dann bitte jetzt. Um die Gläser kümmere ich mich selbst.«
Er ging zu einem zwischen wandhohen Bücherregalen eingelassenen Schrank und stellte geschliffene Kristallgläser auf ein Tablett, nachdem er jedes einzelne zuvor prüfend gegen das Licht gehalten hatte. Dabei betrachtete er aus den Augenwinkeln seine Gesellschaft. Nur der Wurstfabrikant Weber fehlte in letzter Zeit. Mit ihm wäre die Gruppe, die er für die wöchentliche Aufführung seiner selbst im Gutshaus ausgesucht hatte, komplett gewesen. Es waren genau die Bewohner von Herzensach, deren Familien nicht aus dem Dorf kamen. Sie besaßen genug kritische Distanz und waren für die Stimmung in seinem Land die richtigen Seismographen. Die alteingesessenen Familien dagegen
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