Herzensach - Roman
die Spitze des Kirchturms, als daß sie einen Schritt in die Tiefe wagen.«
Rudolf Pedus führte ihn zu einer Plattform, die sich zum Brunnenschacht öffnete. Mehrere vergitterte Arbeitslampen, wie man sie auch in Autowerkstätten findet, hingen an dem groben Mauerwerk und sorgten für Helligkeit.
Jakob Finn trat an den Rand der Plattform. Eine an der Mauer befestigte eiserne Leiter führte in den dunklen Brunnenschacht hinunter. Eine Reihe breiter glänzender Bleche hing in der Mitte des Schachtes und erstreckte sich bis in die Tiefe.
»Sehen Sie, das ist meine ganze Maschine!«
»Damit wollen Sie Gottes Stimme hörbar machen?«
»Sie halten mich für verrückt?«
Der Pastor stand unmittelbar hinter ihm. Ein kleiner Stoß, und Jakob Finn würde zu denen gehören, die im Brunnenschacht verschwunden waren.
»Ich kenne Sie nicht.« Natürlich war der Mann verrückt.
»Keine Ausflüchte. Natürlich bin ich verrückt, und zugleich bin ich es nicht. Vielleicht eine typische Herzensacher Eigenschaft, seit die Piraten hier eingefallen sind. Herzensach steht auf schwankendem Boden. Wußten Sie, daß niemandem im Dorf das Land, auf dem er wohnt und arbeitet, gehört? Alle haben nur Pachtverträge über hundertneunundneunzig Jahre. In rund zwanzig Jahren laufen sie ab. Verstehen Sie, niemand ist hier sicher.«
Der Student spürte das Vergnügen des Pfarrers, ihm angst zu machen.
»Und selbst im Dunkeln kann ich erkennen –«, fuhr der Pfarrer fort, »Ihr Herz fordert Sie zum Bleiben auf. Ist es nicht so?«
»Der kleine Unfall und die Entdeckung eines geeigneten Waldes für meine Promotion halten mich hier, sonst nichts.«
Der Student drehte sich um. Die Schatten der Lampen zeichneten auf Pastor Pedus' Gesicht eine grinsende Teufelsmaske.
»Nein, nein, Sie sind aus einem anderen Grund hier. Das spüre ich genau.« Er wandte sein Gesicht ab. »Ein müdes Herz ist immer in Gefahr – dies ist einer meiner beliebten Orakelsprüche. Er gilt ganz direkt Ihnen. Also hüten Sie sich vor der Sehnsucht, sich auszuruhen. Niemals stehenbleiben. Es ist schwankender Grund. Ich meine das vollkommen ernst, so wie ein Verrückter etwas ernst meinen kann.«
Die Pastor hatte in den Brunnenschacht hineingesprochen und dabei nur noch geflüstert, doch jedes Wort war durch das Bauwerk verstärkt worden. Jakob fragte sich, ob man oben am Rand alles verstehen konnte, ob bei dieser Unterhaltung vielleicht das ganze Dorf mithörte.
»Wem gehört das Land?« fragte er.
»Den van Gruntens. Sollte es dem Gutsherrn einfallen, die Verträge nicht zu verlängern oder alles an jemanden zu verkaufen, der etwas ganz anderes aus dem Tal machen will, so ist die Existenz aller vernichtet. Oder was ist, wenn es keinen direkten Nachkommen mehr gibt. Das ganze Land würde an denjenigen fallen, der nachweisen kann, daß er aus der Familie der Grafen Weinstein stammt. So steht es in dem noch immer gültigen Vertrag. Begreifen Sie nun?«
Jakob runzelte die Stirn. »Was erzählen Sie da?«
Der Pastor lachte laut. »Nicht einmal die Kirche steht auf festem Boden. Sie glauben es nicht? Doch, doch. Und Sie kamen her und hielten Herzensach für ein Idyll. Stimmt's?«
»Ist es das nicht?«
»Nennen Sie mich ruhig einen Verrückten.«
Der Pastor wandte erneut das Gesicht ab, tauchte es ins grelle Licht einer der Lampen, und seine Züge wandelten sich wiederum, diesmal in die eines sanften Mönches, der sich sein Leben lang darum bemüht hatte, nichts als Güte auszustrahlen. Der Student ahnte, daß der Pfarrer sich dieser Wirkung bewußt war, daß er eine Rolle spielen wollte, vielleicht sogar die des zwischen den Verlockungen des Teufels und des Himmelreiches hin- und hergerissenen Doktor Faustus. Vielleicht war dies eine Prüfung, die er dem Studenten auferlegte, um dessen Glaubensfestigkeit zu ermitteln. Wahrscheinlich war alles wahr, was Rudolf Pedus erzählt hatte. Und zwischen der schwankenden Existenz der Dorfbewohner und der riesigen Maschine des Pastors gab es eine Verbindung. Vielleicht waren alle verrückt? Die Menschen, die er bisher kennengelernt hatte, konnte man ebenso als außergewöhnliche Persönlichkeiten wie als Verrückte einstufen.
»Sie fangen Schwingungen auf«, sagte der Student und wies auf die langen, den Schacht ausfüllenden Bleche.
»Jedes der Bleche ist auf eine andere Frequenz geeicht. Es kann sie auffangen und in Töne verwandeln, aber ich kann damit auch Musik erzeugen. Wenn ich jetzt die Dämpfer löse, die die Bleche
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