Herzensach - Roman
Hände. Der Schmerz verließ ihren Körper, und der Schlaf kam. Trivial runzelte noch immer die Stirn.
18
Jakob Finn dachte an den Abend im Haus des Försters zurück. Er hatte die Form einer doppelten Prüfung angenommen. Da war die unerwartet verschlossene Miene des Försters, seine mißtrauischen Fragen. Doch Jakob war keine Antwort schuldig geblieben, und aus seiner Sicht hatte er diesen Test glänzend bestanden. Claudias Prüfung hatte er wohl ebenfalls bestanden. Und wer weiß, wie der Abend ausgegangen wäre, hätte der Förster sich zurückgezogen oder seiner Tochter erlaubt – wie sie es wünschte –, den Studenten noch ein Stück zu begleiten.
Bei diesem Gedanken war Jakob froh, daß der Abend nur mit einem leichten Kuß auf die Wange beendet worden war. Denn nun erinnerte er sich an jenen ersten Augenblick seiner Begegnung mit der Pflegetochter des Tischlers, als sie aus dem Wald heraus auf die Straße getreten war, an ihren unfreundlichen Blick aus den zusammengekniffenen Augen, an ihre mürrischen Antworten, an ihr abweisendes Verhalten, das ihm nichts anderes schien als die natürliche Vorsicht des Dörflers vor Fremden. Ein Mädchen, das jeden Charme, jede Offenheit vermissen ließ, das sich nachlässig kleidete, schmutzig war – und doch hatte er sie vom ersten Augenblick an geliebt, ohne sich dessen bewußt zu sein. Seit dem Abend mit Claudia war er sich seiner Gefühle sicher.
Er verließ das Gasthaus und ging zur Tischlerei. Er sah durch das Bürofenster, aber Katharina saß nicht an ihrem Schreibtisch. Er ging das Gebäude entlang, bog um die Ecke in die Cornelius-van-Grunten-Straße ein und klingelte am Eingang der Privatwohnung. Nichts rührte sich. Er drückte die Tür auf. Eine schmale Treppe führte unmittelbar dahinter steil nach oben. Eine Frauenstimme rief, er solle heraufkommen.
Als Jakob Katharinas Pflegemutter nun zum ersten Mal gegenüberstand, glaubte er, eine Ähnlichkeit zwischen beiden zu entdecken, hätte aber nicht mit Sicherheit sagen können, worin sie bestand. Vielleicht war es nur die Gestik und Mimik, durch die sie sich unbewußt einander angeglichen hatten. Petra Timber wußte sofort, wer er war, und begrüßte ihn sehr herzlich. Er mußte sich an den Küchentisch setzen. Sie lachte ihn offen an und bemühte sich, ihm etwas anzubieten. Er lehnte alle Getränkeangebote ab. Sie begriff: »Sie wollen die Wohnung sehen? Natürlich.« Sie zog die Schürze über den Kopf und legte sie über die Lehne eines Küchenstuhls .»Einen Augenblick, ich hole den Schlüssel.«
Sie verließ die Küche, kam noch einmal zurück. »Sie können eigentlich schon vorgehen. Der Eingang ist neben der Tischlerei. Dort, wo es auch zum Büro geht. Nur die Treppe hinauf.« Sie überprüfte mit beiden Händen den Sitz ihrer Frisur, einer kurzen Dauerwelle. »Ich muß nämlich schnell noch mal nach meinem Schwiegervater sehen, bevor ich das Haus verlasse. Er wohnt unter dem Dach und ist krank«, fügte sie erklärend hinzu. »Ich gehe nie weg, ohne nach ihm zu sehen.«
Jakob erhob sich, nickte.
»Ich komme nach«, versicherte sie.
Der Student stieg die schmale Treppe wieder hinunter und trat auf die Straße. Er vermutete, daß es einen zweiten Weg zur Wohnung des Tischlers gab, möglicherweise durch die Werkstatt oder über den Hof. Denn diese Treppe wirkte eher wie ein Notausgang, und das alte Gebäude machte den Eindruck, als sei es oft umgebaut worden. Er ging an dem offenstehenden Tor der Werkstatt vorbei. Einer der Gesellen belud einen Transporter mit Türblättern. Vor dem Fenster zum Büro verlangsamte er seinen Schritt. Katharina war über den Schreibtisch gebeugt und sah nicht auf. Sie hatte ihr Haar streng zurückgebunden, trug ein hochgeschlossenes hellblaues Männerhemd und eine blaue Hose. Die beiden nicht recht zueinander passenden Farben hatte sie bestimmt mit Bedacht ausgewählt. Bloß nicht attraktiv wirken! »Es nützt dir nichts«, murmelte Jakob. Er ging weiter bis zu der Tür neben dem Büro und wartete.
Petra Timber kam, klapperte mit dem Schlüssel und ging voraus. Die Haustür führte in ein modernes Treppenhaus mit Steinstufen und Eisengeländer. Die Tischlersfrau stieg vor ihm die Treppe hinauf. Jakob hielt einen Augenblick im Erdgeschoß vor der Tür mit der Aufschrift »Büro« inne. Er hörte dahinter Katharinas Stimme, ohne die Worte zu verstehen. Wie immer die Wohnung oben aussah, er würde sie nehmen. Katharina so nah zu sein, ihr vielleicht täglich zu
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