Herzensach - Roman
der es möglich war. (Natürlich tat sie es nicht.) Das Netz von genau bestimmbaren Punkten, von wo aus man Gespräche mithören konnte, zog sich durch das ganze Gebäude. Man konnte lauschen, ohne die üblichen verräterischen Haltungen einnehmen zu müssen, indem man etwa das Ohr an die Wand preßt oder sich zum Schlüsselloch bückt. Wollte man wissen, was in der Bibliothek besprochen wurde, so öffnete man im darüberliegenden Zimmer die unteren Türen eines Einbauschranks, und jedes Wort, sogar ein geflüstertes, war klar und deutlich zu verstehen. (So etwas würde sie nicht tun.) In der Eingangshalle gab es einen bestimmten Platz, an dem sich die Gespräche aus dem Speisesaal deutlich wiederfanden. Trat man jedoch nur einen halben Schritt zur Seite, war nichts mehr zu vernehmen. (Unbeabsichtigt hörte sie manchmal mit.)
Manuela Kotschik vermutete, es hänge mit der Luftheizung zusammen. Ein System gemauerter Schächte durchzog das Haus. Vom Keller aus wurde über sie heiße Luft in alle Räume geleitet. Der Architekt war ursprünglich Orgelbauer in Frankreich gewesen, bis er von der Kirche exkommuniziert wurde und sich Hendrik van Gruntens Piraten anschloß. Er entwarf so ging es aus der Familienchronik hervor – nicht nur den Wehrturm, sondern auch das 1829 erbaute Gutshaus. Und er besaß mit Sicherheit besondere Kenntnisse der Akustik. Auch die später angebauten Flügel verfügten über diese Mithöreinrichtung. Johann Jacob van Grunten hatte für die beiden schmucklosen Anbauten einen Architekten von weither geholt. Er selbst kannte wohl das Geheimnis des Gutshauses und wollte es auf den Neubau übertragen lassen. Ob alle folgenden Gutsherrn in diese Technik des Lauschens eingeweiht waren, wagte die Haushälterin zu bezweifeln. Jedenfalls hatte sie niemals Jan an einem dieser Punkte überrascht. Und sie selbst war nicht interessiert, ihre Entdeckung mitzuteilen. Nicht einmal ihrem Mann hatte sie es verraten. Und selbstverständlich würde sie niemals von ihrem Wissen, das sie auf diese Weise systematisch von ihrer Herrschaft erlangte, Gebrauch machen. Der Gutsherr konnte sich ihrer absoluten Loyalität gewiß sein. Allerdings war sie auch bisher nicht in Versuchung geraten, da sie nichts von großer Bedeutung erfahren hatte.
Nun aber stellten die am vergangenen Abend (zufällig!) belauschten Gespräche sie auf eine harte Probe.
»Was ist mit dir los?« schimpfte ihr Mann. Er war seiner Frau in den vergangenen Jahren aus dem Weg gegangen, trotzdem bemerkte er jetzt ihre Unruhe. Er erwartete keine Antwort und schliff, ohne abzusetzen, am Rand eines alten Tontopfes sein Fleischmesser. Das Metall über den rauhen, gebrannten Ton zu ziehen war noch immer die bessere Art, es so scharf wie ein Rasiermesser zu machen, als der moderne Schleifbock in der Schmiede. Und es war eine sehr befriedigende Tätigkeit, eine Art Meditation. Manuela zuckte zusammen und bemerkte erst jetzt, daß aus der Pfanne, die sie über dem Feuer hielt, schwarzer Rauch aufstieg.
»Werner, du machst mich ganz nervös«, schimpfte sie. Sie war froh, daß er seiner Wege ging und doch immer da war. Er brummte nur und prüfte die Klingen seiner Messer mit dem Daumen, legte sie in die Schublade und zog sich aus der Küche zurück. Die Haushälterin kühlte die Pfanne, legte sie zur Seite und sah zum Fenster hinaus in den Garten.
Gestern abend hatte sie sehr spät noch einen Imbiß zubereiten müssen. Überraschend war der Rechtsanwalt der Familie gekommen. Die Küchenhilfe war schon gegangen. Sie war lange in der Küche und dann mit dem Servieren der Platten und der Getränke beschäftigt gewesen und hatte keine Gelegenheit gefunden zu lauschen. (Wollte ja auch gar nicht lauschen.) Doch der Gast blieb noch bis weit nach Mitternacht. Die beiden Männer hatten das Problem, den Anlaß ihres Treffens, in der Bibliothek von allen Seiten beleuchtet. Was Manuela Kotschik erfuhr (sie hatte es wirklich nicht gewollt), konnte sie niemandem mitteilen. Es beschäftigte sie so sehr, daß sie zeitweilig ihre Umgebung nicht mehr wahrnahm. Schuld an diesem Zustand war wohl auch ihre Schlaflosigkeit in der vergangenen Nacht. Sie war aufgestanden und im dünnen Nachthemd durch das dunkle Haus in die Küche getappt, um sich etwas zu trinken zu holen. Ein schwaches Geräusch hatte sie alarmiert. Sie war nicht die einzige im Haus, die nicht schlief. Auch Jan war noch wach. Und an jener Stelle (sie kreuzte sie zufällig), von der aus man fast jedes in seinem
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