Herzensach - Roman
ein einsames Motel an der Straße.
»Ich würde Sie gern über alle Geheimnisse des Ortes ausfragen, aber ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.«
»Dann könnte ich noch so schnell fahren, wir würden uns keinen Meter von Herzensach entfernen.«
Sie trat das Gaspedal durch. »Sie sollten mir nicht trauen. Ich weiß nichts. Und ich würde Ihnen auch nichts verraten. Außerdem: Ich bin eine Fremde im Ort, und aus meinem Mund klingt alles fremd, was für die Ureinwohner normal ist. Mein Tip: Gehen Sie sonntags in den Gasthof!«
»Man hat mich davor gewarnt. Was geschieht dort?«
»Oder bleiben Sie nachts wach und beobachten Sie, wer sich von Haus zu Haus schleicht.«
»Ich fürchte, ich habe, ohne es zu wollen, eine heimliche Verbindung beobachtet.«
»Erzählen Sie mir lieber nichts davon. Ich müßte alles weitererzählen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin diskret.«
»Aber wenn Sie in Ruhe leben wollen, dann folgen Sie niemandem und suchen Sie sich ein Quartier in einem anderen Ort. Vor allem verlieben Sie sich nicht in eines der Mädchen aus dem Dorf. Aber ich fürchte, meine Warnung kommt zu spät.«
»Was würde mit mir geschehen?«
Sie hatten Weinstein erreicht. Sie sah ihn nicht an und gab keine Antwort, sondern konzentrierte sich auf die Fahrt durch die engen Gassen. Schließlich parkte sie in einem Hinterhof und stieg aus.
»Wie komme ich zu meiner Werkstatt?«
»Kommen Sie mit. Ich stelle Sie der Frau vor, die wie keine andere an jenem Tuch webt, das wie ein Vorhang alles in Herzensach vor fremden Augen verbirgt. Vielleicht haben Sie Glück, und sie läßt Sie dahinterschauen.«
Sabine Weber ließ Jakobs Einwand, endlich zur Autowerkstatt gehen zu wollen, nicht gelten, führte ihn durch einen Torweg in die Haupteinkaufsstraße und dort in ein kleines Haus mit zwei Läden – einer Boutique und einer Galerie. Beide gehörten ihr.
Heidelinde Wulf saß zwischen ihren an den Wänden hängenden und stehenden Werken in der Galerie. Sie war eine außerordentlich schöne Frau mit einem ebenmäßigen Gesicht, das zwischen den bunten Bildern wie eine Ikone aus einem Stummfilm wirkte. Jakob hätte jedes Motiv dieser bis zu einem Quadratmeter großen Landschaftsbilder in der Natur um Herzensach wiederfinden können. Manchmal waren sogar Teile des Dorfes zu sehen. Sabine Weber stellte ihn vor und überließ ihn ihrer Freundin Heide, als hätte sie ihr ein Geschenk mitgebracht. Wie ähnlich die beiden Frauen einander plötzlich waren. (Vielleicht doch aus einem alten Film.) Dann verschwand sie, um in ihre Boutique zu gehen. So plötzlich mit der Malerin alleingelassen, spürte der Student seine Verlegenheit, sagte, er wäre sehr neugierig auf die Künstlerin gewesen und ob sie denn Herzensach für so friedlich halte, wie ihre Bilder es zum Ausdruck brächten. Er hatte vor, ein paar freundliche Worte zu wechseln, sich bald darauf zu entschuldigen und sein Auto abzuholen. Doch die Frau des Arztes antwortete ihm nicht, sie musterte ihn mit einem spöttischen Lächeln (Metropolis? Caligari?) von oben bis unten, so daß er sich noch unwohler fühlte.
Er suchte schon nach einer Formulierung, die es ihm schnell ermöglichen würde zu gehen, da begann sie zu sprechen.
»Sie wissen sicher nicht, daß ich eine geborene Herzensacherin bin.« Es kam langsam und bedächtig wie eine Warnung. (Nosferatu?) Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin dort aufgewachsen bei meinem Großvater, der lieber einen Enkel gehabt hätte. Mein Vater hat es nicht ausgehalten und ist kurz nach meiner Geburt davon. Ich mußte bleiben, später bin ich ihm nach. Und ich bin zurückgekommen. Ich habe einen Mann mit nach Herzensach gebracht, der dort gebraucht wurde. Es war eine Art Pflicht. Verstehen Sie?« (King Kong und die weiße Frau?) Mit Abscheu nahm sie eines ihrer gerahmten Bilder auf und hielt es ihm vor das Gesicht. Und da begriff er plötzlich, was das Besondere an diesen Bildern war; er hatte es schon damals gespürt, als er sie durch die Fensterscheiben hindurch angesehen hatte, und nun konnte er es formulieren: Diese Bilder waren voller Wut und zugleich voller Liebe. Sie waren der Versuch, sich etwas zur Heimat zu machen, aus dem man eigentlich fliehen wollte. Sie war eine Gefangene dieser Landschaften, sie haßte sie und liebte sie und konnte sich nicht davon befreien. Ihre Gemälde waren Hilfeschreie, Peitschenhiebe und Liebeserklärungen. Seine Entdeckung machte ihn sprachlos.
Sie faßte ihn am Arm, und er ließ sich
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