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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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völlig offenbarte, obwohl er immer mehr Ähnlichkeit zwischen sich und ihm entdeckte.
    Der Pastor erhob sich, ging dem Arzt zwei Schritte entgegen und streckte beide Hände aus. Die Männer umfaßten sich an den Unterarmen, und ein Beobachter hätte für einen Moment glauben können, sie wollten in dieser Haltung miteinander tanzen. Sie setzten sich zurück auf die Bank.
    »Was bin ich froh, dich zu sehen«, sagte der Arzt. »An manchen Tagen spüre ich nichts als Unheil in der Luft.«
    »Da bist du bei einem Pfarrer an der richtigen Stelle, um Trost zu finden.«
    Der Arzt lächelte. »Und was sagst du einem, dem alles und jedes angst macht?«
    »Wieviel Angst muß Jesus Christus gehabt haben?«
    »Zu Recht hat er sich gefürchtet. Man wollte ihn umbringen.«
    »Fürchtest du das gleiche?«
    Der Arzt schüttelte den Kopf, obwohl er lieber genickt hätte. Der Pastor warf ihm einen Blick zu, als wüßte er auch so Bescheid.
    »Vielleicht ist es nur, daß sich unsere kleine Welt wandelt. Manchmal spürt man die sonst kaum merklichen Veränderungen auch hier in diesem Tal. Ein Mensch stirbt – ein Fremder kommt –, und das löst bei uns bereits Verunsicherung aus.«
    »Was immer Maria Glaser in der Sekunde ihres Todes gesehen haben mag, es muß sie erschreckt haben. Und keiner vom Gutshaus hat es gewagt, die Lider über diesen Blick zu schließen.«
    »Du willst doch nicht etwa behaupten, sie sei keines natürlichen Todes gestorben?«
    »Sagen wir es mal so: Ist das Entsetzen über das Leben eine normale Todesart?«
    »Du hast recht. Sie kam schon öfter zu mir in die Kirche und wünschte sich zu sterben. Aber sie wollte die Hochzeit ihres geliebten Jan noch erleben. Nun muß sie von oben zusehen.«
    »Jan heiratet?« Der Arzt beugte sich überrascht vor.
    »Natürlich. Ich schließe das aus unserem letzten Abend im Gutshaus. Er wird sich beeilen. Und ich fürchte, es wird keine ...«
    »... besonders christliche Angelegenheit?« ergänzte der Arzt.
    Der Pfarrer lachte. »Du kennst unseren Gönner so gut wie ich. Wir haben einen Freund in ihm; das verpflichtet, besonderes Verständnis aufzubringen.«
    Sie schwiegen beide, sahen über die Felder und den Wald und betrachteten die Formen der vielen kleinen Wolken, die bewegungslos am Himmel standen. Rudolf Pedus hob den Arm. »Siehst du die dort, die hat das Profil vom Wirt.«
    Bernhard Andree lachte, doch plötzlich verstummte er, denn nach und nach entdeckte er die Köpfe der Herzensacher am Himmel und wußte, daß man sie belauschte.
    »Man duldet uns nur, solange wir nützlich sind«, flüsterte er. Er wollte aufstehen und schreien. Aber es gab niemanden, zu dem er hätte laufen können, niemanden, der ihm Schutz gewährte. Seine Kinder stießen ihm im Traum lange Nadeln ins Fleisch. Und auch in den weichen, ausgebreiteten Armen Wilhelminas erwartete er die verborgene Kastrationsschere. Gegen seinen Willen flossen ihm Tränen aus den Augen. Er begann zu schluchzen.
    Rudolf Pedus nahm seinen Freund in den Arm.
    »Früher«, begann der Arzt stockend, »habe ich darüber nachgedacht, Mörder zu werden. Ich dachte, dann hätte ich keine Angst mehr – vor nichts und niemandem.«
    Er sah dem Pfarrer in die Augen. »Mörder haben doch keine Angst, nicht wahr?«

27
    Sie wollte nicht abnehmen. Sie sah zum Telefon, lehnte sich zurück und fuhr langsam mit dem Finger über ihren nackten Arm, hoch bis zur Kante des kurzen Ärmels ihres Hemdes. Es war eine eindeutige Bewegung. Sie bedeutete, ich werde den Hörer nicht abheben. Aber das Klingeln wollte nicht verstummen. Eine andere Geste mußte her. Sie beugte sich vor und nahm ab. Sie dachte nicht daran zu sprechen. Sie hielt den Hörer in Armlänge von sich und hörte, wie darin ihr Namen von einer ganz kleinen, dünnen Stimme ausgesprochen wurde.
    »Claudia?«
    Sie hob die Brauen und ließ die Stimme an sich herankommen.
    »Claudia? Ich bin es, Jakob ... Ist da jemand?«
    Sie legte die Stirn in Falten.
    »Jakob Finn. He, hallo. Hört mich jemand?«
    Sie schnaufte. Ausgerechnet jetzt dieser Anruf.
    »Claudia? Ich rufe im Auftrag deines Vaters an.«
    »Hat er, ist er ...«
    »Claudia, was ist los?«
    »Ist ihm etwas passiert?« Es klang zu hoffnungsvoll.
    »Nein, nein. Er kommt zwei Tage später. Und ich bin schuld daran. Ich habe ihn einem Freund beim Fernsehen empfohlen. Ich glaube, sie wollen Probeaufnahmen machen.«
    »Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du sprichst.«
    »Oh! Ich dachte, er hätte dich vielleicht gestern

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