Herzensach - Roman
Wieder »Rapunzel«, aber darin war der Prinz blind geworden. Alles falsch.
Sie eilte in die Küche, holte das kleine scharfe Messer, mit dem sie, bevor Heidelinde Wulf kam, noch das Gemüse geschnitten hatte, steckte es in ihre Rocktasche und lief hinaus in den Garten. Sie rannte bis zum Gehege am Wald, doch das Reh war nicht da, an dessen Hals sie sich hatte schmiegen wollen, um endlich weinen zu können. Sie sank auf die Knie, barg ihren Kopf in den Armen und schluckte trocken. »Sterben«, sagte Fundevogel.
Unbemerkt trat das Reh heran, drückte seine Schnauze an ihr Ohr und spielte mit. Claudia hob flehend die Arme, umschlang den seidigen Hals des Tieres. Wie auf einem Bild von Ludwig Richter. »Hilf mir«, sagte sie schluchzend, und endlich strömten die Tränen. Doch plötzlich zuckte sie ungläubig zurück, denn erst jetzt wurde ihr das Flüstern des Rehes bewußt. Deutlich hatte das Tier gesagt: Komm, Gretel!
Mit halboffenem Mund starrte sie das Reh an, suchte nach einer Regung, einem Licht in den dunklen Tiefen seiner Augen. Aber das Tier drehte sich plötzlich auf der Stelle und ging langsam auf den Wald zu, blieb stehen, sah sich um und ging erst weiter, als Claudia sich erhob und ihm zögernd folgte.
Immer weiter führte sie das Reh, zwischen den hohen Kiefern hindurch zur Herzensach, über den Fluß und den Buchenwald hinauf. Keinen Laut vernahm Claudia, kein Rascheln von Blättern, kein Knacken von Zweigen, kein Vogel sang, kein Wind rauschte. Immer dichter standen die Bäume, immer undurchdringlicher für das Sonnenlicht wurde das Blätterdach. Ihr Herz krampfte sich zusammen, und immer wieder sah sie an sich herab, ob sie vielleicht schon tot wäre und ihre Arme, ihr Kleid voller Blut. Aus welchem Märchen war das? Würde ihr eigener Vater hinter einem Baum hervortreten, um ihr Herz und Leber aus dem Leib zu schneiden wie in »Schneewittchen«? War das die Strafe, daß sie ihn schützte und zugleich verriet? Aber es gab keine Stiefmutter!
Das Reh, das immer wieder geduldig zwischen den Bäumen auf sie gewartet hatte, war plötzlich verschwunden. Sie wollte es rufen, doch ihre Stimme war vollkommen tonlos. Zugleich wußte sie, es würde nicht zurückkehren, denn sie erkannte, wohin sie geführt worden war. Zwischen den Blättern sah Claudia die großen flachen Steintafeln leuchten. Das Reh hatte sie zum »Grab des Riesen« gebracht.
Über Form und Zweck der drei behauenen Steinplatten wußte niemand etwas Genaues zu sagen. Auch die Wissenschaftler, die es zuletzt Ende des vorigen Jahrhunderts untersuchten, konnten nur das Alter der Anlage bestimmen. Vielleicht gab es einen Zusammenhang zwischen dem »Grab des Riesen« und dem Steinkreis auf dem Heidberg? Deutete man die Form der Steinplatten als Pfeil, so zeigte er auf den Heidberg. Aber auch diese Verbindung brachte einen nicht weiter. Wie immer, wenn das Rätselhafte eines Fundes nicht zu entschlüsseln war, wenn es mit nichts verglichen oder in Beziehung gesetzt werden konnte, um wenigstens eine spektakuläre Forschungsarbeit entstehen zu lassen, starb das Interesse der Wissenschaftler sehr schnell. Der Ort fiel einer seltsamen Verschwiegenheit anheim. Kein Prospekt, kein Buch, keine Wanderkarte setzte ihm ein Zeichen. Nicht einmal die Menschen, die von ihm wußten, statteten ihn mit mysteriösen oder blutrünstigen Phantasien aus. Kein Wanderer berichtete von nächtlichen Irrlichtern, von Hexentreffen oder Begegnungen mit Gespenstern. Man berichtete überhaupt nicht. Daß ein Platz so sprachlos machte, hätte wieder verdächtig stimmen müssen, wenn nicht genau die gleiche Sprachlosigkeit es verhinderte.
Claudia bog das Gebüsch zur Seite, betrat die Lichtung, und auf einmal stürzten alle Geräusche des Waldes wieder auf sie ein. Als sie mit vierzehn Jahren nach Herzensach gekommen war, hatte sie diese Steinplatten als Ersatz für die Grabstelle ihrer Mutter angenommen. Die ersten Jahre war sie oft hierhergekommen, hatte gebetet und mit Selbstauslöser ein Foto davon gemacht und auf diese Weise tatsächlich Trost gefunden.
Sie näherte sich langsam den Steinen, und plötzlich erkannte sie die Bedeutung des Platzes. Es war der Ort der Wahrheit. Hier durfte, hier mußte konsequent zu Ende gedacht und ausgesprochen werden, was andernorts nicht erlaubt war oder bestraft wurde. Hier konnte man laut sagen, wofür man woanders sein Ansehen, seinen Verstand oder sein Leben verlor. Endlich war sie in ihrem eigenen Märchen:
Sie legte sich flach
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