Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
Vom Netzwerk:
er sich nur wieder dem Spott seiner Frau aussetzen. Er schloß das Gartentor auf, durch das man auf den Feldweg kam, der zur Herzensach führte. Obwohl es sehr niedrig war, bestand er darauf, daß es abgeschlossen wurde. Als seine Frau ihn noch begleitet hatte, war er diesen Weg oft und gern gegangen, doch seit Jahren führte sie ein von ihm unabhängiges Leben. Sie hatte sich zum Malen ein Atelier in einer Kate am Eingang des Weberschen Grundstückes eingerichtet und schlief oft dort oder bei ihrer Freundin Sabine Weber. Alles, was er befürchtet hatte, war eingetreten, Heidelinde liebte ihn nicht mehr, und er verlor das Vergnügen an seinem Beruf. Es fiel ihm immer schwerer, seine Sprechstunden abzuhalten. Seine Patienten machten ihm angst. Schon immer war es ihm schwergefallen, ihnen in die Augen zu sehen, und so hatte er ihnen das Ohr zugewandt. Er wußte, was sie deshalb über ihn sprachen. Doch nun stellte er fest, daß es ihm nicht nur mit seinen Patienten so ging. Alle Menschen machten ihm angst. Jederzeit. Auch die nächtliche Arbeit der Haushälterin machte ihm angst, obwohl sie zu seiner Befriedigung verlief. Er ahnte, Wilhelmina wollte ihn für seine Frau entschädigen. Sogar vor seinen Kindern fürchtete er sich. Und im Grunde war er sich sicher, eines Tages von jemandem grundlos umgebracht zu werden.
    Die einzige Freude verschaffte ihm seine Arbeit im Labor. Niemand durfte hinein. Dort unten im Haus war er sicher, auch wenn seine Forschungsarbeit seit Jahren keine Fortschritte machte. Irgendwann würde ihm der Durchbruch gelingen. Schade, daß die Herzensacher nur selten große Wunden hatten. Bei wirklich schweren Unfällen riefen sie den Rettungswagen aus Weinstein oder fuhren in die dortige Klinik.
    Ganz still in dem Kellerlabor zu sitzen und sich bewußt zu machen, daß es unter der Erde lag und keine Fenster hatte, also beinahe hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen war, das bereitete ihm ein letztes Vergnügen. Dort unten fühlte er sich manchmal nahezu unbeschwert und konnte ein ganz zartes, kleines Glücksgefühl pflegen.
    Doch an diesem Tag, nach der morgendlichen Sprechstunde, hatte sich seiner ein so starkes Gefühl der Unruhe und der Ungewißheit bemächtigt, daß er glaubte, nur durch körperliche Bewegung wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
    Die Herzensach glitzerte im Sonnenlicht. Er ging, so schnell es der schmale Pfad am Ufer erlaubte, an ihr entlang. In der Senke des Flusses war es besonders warm. Zahllose Insekten schwirrten über dem glitzernden und zwischen den Kieseln plätschernden Wasser. Ein Vogelpaar nutzte eine flache Stelle, um darin abwechselnd übermütig zu baden und mit funkelnden Wassertropfen um sich zu werfen. Doktor Andree hielt an, um die Vögel nicht zu verscheuchen, beugte sich herab und tauchte eine Hand in den Fluß. Zwei Stichlinge flohen vor ihm ins tiefe Wasser. Wieder übermannte ihn eine seiner Angstphantasien, er fürchtete, daß sich jemand von hinten nähern, ihm mit einem Ast über den Kopf schlagen und ins Wasser stoßen könnte. Vorsichtig sah er sich um, doch es war niemand da. Er zog seine Hand aus dem Fluß. Das Wasser war überraschend kalt. Seine Patienten mit den Pigmentstörungen auf den Schulterblättern fielen ihm ein. Jetzt waren es schon fünf mit den gleichen Symptomen. Eigentlich hätte er sie an einen Hautarzt nach Weinstein überweisen müssen, aber er war sich sicher, sie würden dort nicht hingehen. Andererseits zweifelte er, ob es sich nicht um altersbedingte, normale Veränderungen des Hautbildes handelte oder ob die Flecken nicht schon immer vorhanden gewesen waren, erblich bedingt vielleicht, ein genetischer Defekt, schließlich heirateten die Herzensacher fast ausschließlich untereinander. Und manchmal traute er einfach seinen Augen nicht. Vielleicht war er der einzige, der die Flecken sah?
    Langsam wanderte er weiter; auf Höhe der Kirche wandte er sich von der Herzensach ab, überquerte das zwischen Fluß und Friedhof liegende Brachland und ging an der Friedhofsmauer entlang, bis das Haus des Pastors zu sehen war. Das Bild entsprach seiner Erwartung: Rudolf Pedus saß auf der Bank hinter dem Haus und lächelte ihm freundlich entgegen. Wenn er jemals im Leben einen Freund besessen hatte, dann war es der Pfarrer. Ausgerechnet hier, in einem solchen Ort, umgeben von Feinden, hatte er einen Menschen getroffen, der ihm wie kein anderer sympathisch war. Und nur seine Furcht, den Freund zu verlieren, verhinderte, daß er sich ihm

Weitere Kostenlose Bücher