Herzensach - Roman
angerufen und informiert.«
»Nein, ich weiß von nichts.«
»Uh! Na ja, es geht um eine Fernsehserie. Immer so zehn bis zwanzig Minuten, einmal in der Woche. Aber das steht noch nicht so richtig fest. Dein Vater tritt darin auf, geht durch den Wald und erzählt seine Sachen. Du weißt schon, die Vergleiche von der Natur mit dem Leben des Menschen. – Bist du noch da?«
»Ja, ja, aber ehrlich gesagt, weiß ich immer noch nicht ...« Sie schaltete um: »Wann kommst du zurück?«
Er konnte nicht folgen: »Ich?«
»Wenn du mir sagst, wann du kommst, bin ich schon in deiner Wohnung und warte auf dich.«
»Hör mal, Claudia, das solltest du nicht tun. Ich ...«
»Wann fährst du los?«
»Claudia, bitte ... ich ... versteh mich nicht falsch, du bist eine wunderbare ...«
»Bis bald«, hauchte sie und gab dem Hörer einen Kuß. Dann legte sie auf. Sie hatte genau gespürt, was er sagen wollte, und hatte es verhindern müssen.
»Er war es, nicht wahr?« sagte die Frau hinter ihr.
»Ja.«
»Gut gemacht. Sieh mich an!«
»Ich hasse das.« (Eigentlich: Ich hasse dich!) Claudia wollte die Frau nicht ansehen.
»Du sollst mich ansehen!«
»Am Telefon ist das am schlimmsten. Das mag ich überhaupt nicht.« (Ich seh dich nicht an!)
»Du sollst mich ansehen! Was wollte er?« Die Frau kam heran und packte sie unter dem Kinn. »Was wollte er?«
Claudia schloß die Augen. »Mir ausrichten, daß Vater später kommt. Sie machen eine ... eine Fernsehsendung, oder so etwas, mit ihm. Was weiß ich.«
Die Frau ließ sie los und brach in schrilles Lachen aus. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und warf den Kopf zurück. Claudia blinzelte. Aus dem offenen Mund der Malerin kam ein triumphierendes Lachen, scharf abgegrenzte Laute. Es war sinnlos, Heidelinde Wulf in diesem Moment den Hals durchzuschneiden. Er war zu dick. Heidelinde holte Luft. »Unser Förster, ein Fernsehstar ...« Sie stieß noch ein wenig giftige Luft aus der Nase.
Claudia wedelte mit der Hand und spürte, daß sie ihren Vater nicht ewig würde beschützen können. Darum ging es auch gar nicht.
»Es ist ja schon gut«, sagte sie. »Ich versuche es ja. Aber kann sein, daß es nicht klappt. Ich kann nichts versprechen. Es war schon neulich so, daß ich nicht sehr weit gekommen bin.«
Heidelinde Wulf schickte ihr einen unbarmherzigen Blick. »Ich verlasse mich auf dich, Kindchen.« Sie stand auf, strich ihren Rock glatt und ging zur Tür.
»Aber, aber dafür, dafür ...« stotterte Claudia. Sie wollte eine Gegenleistung und ging hinter der Malerin her. Draußen griff sie nach einem Ärmel von Heidelinde Wulfs Kostüm. Sie wollte nicht falsch verstanden werden. Sie wollte den Studenten wirklich! Und dafür war sie bereit, ihn zu verraten. Irgendwie ging das nicht zusammen.
»Ist ja gut, mein Kleines. Ist ja gut. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, brauche ich dich da oben nicht mehr.« Sie deutete in Richtung des Bungalows. »Die Neue macht ihre Sache gut.«
»Ach, das ... das geht eigentlich.« Sie überlegte, wie sie es sagen könnte. Die Malerin wartete nicht, stieg in ihren Wagen, startete ihn und fuhr los, ohne sich umzusehen. Claudia ging rückwärts ins Haus zurück. In der Küche stützte sie sich schwer auf den Tisch. Nach früheren Besuchen der Malerin hatte sie sich jeweils im Bad vor den Spiegel gestellt und geweint. Ein schönes Bild, wenn die Tränen über ihre Wangen perlten. Dann hatte sie sich wunderbar gefühlt.
Wenn sie sich die richtigen Fragen über ihr Leben stellte, konnte sie bestimmt weinen – und das passende Märchen finden. »Bin ich das wirklich alles meinem Vater schuldig, weil er selbst so viel Schuld auf sich geladen hat?« murmelte sie leise. Es war aus »Rapunzel«. Sie setzte nach: »Wenn man um der Liebe willen Falsches tat, ist dann nicht auch die Liebe falsch?« König Drosselbart schüttelte sich. »Ich betrüge alle Menschen um mich herum.« Frau Holle ging ins Bad vor den Spiegel. »Eines Tages wird Gold zu Pech werden. Alles Licht, das ich zu besitzen glaube, wird Dunkelheit sein. Jedes gegebene Lächeln, jeder Kuß wird zurückkehren. Unbenutzt – als Maske, wertlos.« Es kamen noch immer keine Tränen. Alles paßte noch nicht zusammen. »Nicht einmal meine Erinnerungen werde ich behalten dürfen, wenn ich überleben will. Aber was für ein Leben wird das sein? Stumm und blind gegen jeden. Ich armes Mädchen! Wie hat das alles nur geschehen können? Wäre es nicht besser, das Leben zu beenden?«
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