Herzensach - Roman
auf einen der schmalen Steine, spürte seine Kraft, alles in sich aufzunehmen und zu bewahren. Das kleine Messer fiel ihr aus der Tasche, rollte herab und verschwand in einer kleinen Höhlung unter dem Stein. Sie schob den Kopf über den Rand, tastete danach. Sie wußte, was kam. Sie fühlte seine Schneide und zugleich den Schmerz. Sie hob die Hand, betrachtete das Blut, das an dem kleinen Schnitt einen Tropfen bildete, der schließlich herabfiel und als rote, glänzende Perle auf dem satten Grün des Mooses liegenblieb. Sie ließ es dunkler um sich werden, als lösche jemand langsam das Licht, gleichzeitig fühlte sie sich schwerelos. Sie war kurz davor, den Titel für ihr eigenes Märchen zu finden. Die rote Perle lag noch immer im Moos. Das ist das Zeichen, dachte sie. Es war nicht ihr eigenes Leben, um das es ging. Und laut sagte sie: »Ich werde töten müssen, was ich liebe!« Nein, das war eine Geschichte aus der Bibel! Das kam davon, wenn man wie ein Opfer auf dem Altar lag.
Sie spürte das Zittern des Steines, klammerte sich daran, bis jemand mit hechelndem Atem sagte: »Du hast einen Wunsch frei.«
Nur einen, dachte sie, waren es nicht immer drei, die erfüllt wurden? Warum nicht drei?
»Du brauchst nur einen.«
Sie wußte, daß die Stimme recht hatte; wenn man mit Bedacht wählte, genügte die Erfüllung eines einzigen Wunsches. Nur die Dummköpfe in den traditionellen Märchen brauchten drei, und selbst die genügten ihnen meist nicht, weil sie sie übereilt aussprachen und einen Wunsch mit dem nächsten zu korrigieren versuchten, so daß sie am Ende vor dem Nichts standen oder sich sogar ins Unglück gestürzt hatten.
»Wenn es soweit ist, nenne meinen Namen und den Wunsch.«
Deinen Namen? Wie ist dein Name? Mühsam hob sie den Kopf, um zu sehen, wer mit ihr sprach.
»Du?«
Sie richtete sich überrascht auf. Das war ganz und gar unmöglich.
Er nickte bedächtig mit dem Kopf, dann ließ er sich stöhnend nieder und legte ihr seine feuchte Schnauze in die Hand. Nein, das war ganz schlecht.
28
»Dieser Baum«, sagte der Förster und legte seine Hand auf den virtuellen Stamm, »dieser Baum stirbt. Ich schätze, er ist rund zweihundert Jahre alt geworden, und es wird zwei bis drei Jahre dauern, bis wirklich kein Leben mehr in ihm ist.« Er löste sich von dem Baum. Die Kamera fuhr zurück. »Doch sehen Sie genau hin, wie er stirbt: langsam und im Kreise seiner Familie. Doch auch diesen friedlichen Tod gönnen wir Menschen ihm nicht. Sobald die Anzeichen seiner Krankheit zu deutlich werden, kommen die Männer mit den Sägen und bereiten ihm ein vorzeitiges Ende. Warum? Können wir nicht mehr zusehen, wie jemand stirbt? Oder ist es unser schlechtes Gewissen? Wir sind schließlich mit unseren Abgasen schuld an seinem Tod. Aus den Augen – aus dem Sinn?«
Der Monitor wurde nach einem abschließenden Lichtblitz schwarz. Andreas verkroch sich in seinem Sessel. »Was ist schlecht daran? Sag es mir.«
Jakob stand auf. »Du bist der Fachmann.«
»Sie wollen es nicht. Ich begreife das nicht. Ich bin erledigt.« Er sank noch weiter in sich zusammen.
»Dir wird etwas anderes einfallen.« Jakob hatte keine Geduld mehr mit seinem Freund.
Andreas sah ihn an. »Du willst gehen, nicht wahr? Ich bringe dich raus.«
Sie stiegen die Treppe des Studios zum Ausgang hinunter.
»Ich muß nach Herzensach. Ich halte es nicht mehr aus.« Jakob hatte seinem Freund alles über seine komplizierte Beziehung und die unerwiderte Liebe zu Katharina erzählt.
»Hast du ihr geschrieben, wie ich es dir geraten habe?«
»Ach, Andreas, ich kann nicht. Ich habe es wirklich probiert. Mein Papierkorb ist voller Briefanfänge.« Schon mit den Formen der Anrede hatte er mehrere Seiten verbraucht.
»Na ja, du mußt es wissen. Ich wünsche dir Glück ...« Sie waren beim Ausgang angekommen. Jakob legte einen Arm auf Andreas' Schulter.
»Dir wird etwas Neues einfallen.«
»Die kündigen mir.«
»Ist der Förster noch im Haus?«
»Sitzt in der Kantine. Wahrscheinlich beim Jägerschnitzel.«
Die Freunde umarmten einander. Jakob verließ das Gebäude, trat auf den Hof des Geländes, ging an einem geöffneten Studio vorbei, in dem der Aufbau für eine Sportschau mit Zuschauertribünen stand, und erreichte die Kantine. Schon von außen versuchte er durch die Fenster den Förster auszumachen. Es gelang nicht. Förster gingen in Studiokantinen unter. Besonders wenn die Komparsen von »Meine Heimat, meine Melodien« gerade Pause hatten.
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