Herzensjunge
Chorstunden, und ihm ist nicht anzusehen, dass es vom Konzert im letzten Jahr stammt.
Ich hätte Jan so gerne hier. Im Warmen und gemütlich. Dass er es aushält, allein in diesen vielen Zimmern.
Morgen werde ich wieder zu ihm gehen. Noch habe ich kein Alibi vorbereitet. Doch Papa will ja bei Oma alles zum Glänzen bringen.
Da wird er wohl beschäftigt sein. Er ist genau der Mann, der mit der Zahnbürste in die Fugen der Kacheln geht.
Ich schalte das Küchenradio an. Dreh dran herum. Mama und Papa haben meistens einen Nachrichtensender drin.
»When you try your best, but you don’t succeed«, höre
ich. Das ist das Lied, das ich brauche. Zwar auch nicht von großer Heiterkeit, doch ich mag die Jungs von Coldplay .
Ich gehe aus der Küche und singe laut mit. Singe gegen meine neue Weinerlichkeit an und versuche gerade ein paar Tanzschritte, als die Tür aufgeht und Papa hereinkommt. Adrian im Schlepptau.
»Ich dachte, ich werde mit Macht hoch die Tür empfangen«, sagt Papa.
»Du kannst Es kommt ein Schiff geladen haben«, sage ich, »doch daran habe ich mir heute schon den Mund fusselig gesungen.«
Das Komische an Lügen ist, dass sie einem immer leichter über die Lippen gehen, hat man erst einmal mit ihnen angefangen.
»Hast du Mama und Andreas in Lübeck gelassen?«, frage ich.
Seit seinem Auftritt in Andreas’ Zimmer habe ich einen schnippischen Ton ihm gegenüber. Komisch, dass er nicht aufbegehrt.
»Sie kaufen noch ein«, sagt Papa, »wie lange bist du denn schon hier?«
»Schon eine ganze Weile«, sage ich.
Papa geht in die Küche und packt eine Tüte aus. Drei Adventskalender mit Lübecker Marzipan. Der eine hat den Winterwald als Motiv. Der zweite den Weihnachtsmann auf seinem Schlitten. Der dritte Kalender zeigt das Christkind, das den Zug der Englein anführt. Ich denke gleich wieder, dass Papa lieb ist und ich böse. Das passiert mir oft mit ihm.
Ich drehe die Musik leise und bin bereit zu reden.
Alles auf den Tisch legen. Die Liebe zu Jan. Die Lügen, in die ich mich flüchte.
Ich will doch viel lieber die Wahrheit sagen dürfen.
»Papa«, würde ich gern sagen, »ich will doch nur, dass du es akzeptierst. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde keine Schlampe und keine schlechte Schülerin. Ich ziehe auch nicht aus, um in einer WG zu leben. Lass mich nur mit Jan zusammen sein.«
Ich sage das alles nicht. Denn ehe ich den Mund öffne, tobt mein kleiner Bruder in die Küche. Schnappt sich den Kalender mit Weihnachtsmann und Schlitten, den er sich sicher ausgesucht hat, und sprudelt los.
Von Lübeck. Von Weihnachten. Von dem langweiligen Dichterhaus.
Papa geht auf ihn ein. Geht mit Engelsgeduld auf ihn ein.
Ob er weiß, dass wir eine Chance verpasst haben?
Ich stehe auf und nehme den Adventskalender mit dem Christkind, der bestimmt mir zugedacht ist, und ziehe mich in mein Zimmer zurück.
66
Sonntagvormittag. Ich gehe doch noch mal in Omas Wohnung. Allein und im Schlampenlook. Papa sitzt am Schreibtisch und verkündet, dass er zwei Stunden mit der Umarbeitung des Weihnachtsmärchens zu tun haben wird, das er mit der dritten Klasse aufführen will.
Er klingt wie ein Mann, der sagen will, er opfere sich auf.
Er fragt nicht, wohin ich gehe. Guckt nur kurz auf. Ich halte den Korb mit dem Altglas in der Hand. Dass ich noch immer glaube, Haken schlagen zu müssen.Vortäusche, dass ich nur unterwegs bin, um leere Flaschen in den Container zu werfen. Dabei treffe ich Jan nicht einmal.
Ich habe bei Jan angerufen und dem Läuten des Telefons zugehört.
Er ist nicht da.Vielleicht sitzt er auch am Flügel und spielt lauter, als das Telefon klingeln kann.Vielleicht ist er in einer trüben Stimmung und liegt auf dem Bett und guckt Löcher in die Luft.
Wird er mir öffnen, wenn ich nachher noch vorbeigehe?
Omas Wohnung ist fremd. Ohne Oma drin. Ohne Jan und mich.
Zwei Keramikbecher und die Teekanne stehen noch in der Küche.
Wir hatten sie später abspülen wollen. Ich öffne den Kühlschrank. Eier und die dänischen Speckstreifen, die wir versäumt haben, zu essen.
Das Brot ist trocken und alt geworden.
Ich gehe zur Terrassentür und gucke auf die Alster, die sich silbrig grau gibt. Der Himmel ist auch von einem silbrigen Grau. Keine Lücke in den Wolken. Doch der Tag ist nicht wirklich trüb.
Noch einmal gehe ich durch die Zimmer, die ich ab Dienstag wieder mit Oma drin sehen werde. Auf dem Klavier liegen noch die Noten von Father and Son . Das hat Jan zuletzt gespielt.
Ich
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