Herzensjunge
Omas Klavier gespielt.
»Ich fand den Spruch einfach gut«, sagt Jan.
Irgendwie war mein Blick an Lennons runder Brille hängen geblieben. Jetzt erst lese ich den Text, der in der unteren Hälfte des Posters steht: »Leben ist das, was passiert, während du andere Pläne machst.«
Ich stelle die Tasche ab, deren Inhalt Teil meines Planes für den heutigen Nachmittag ist. Das kupferschimmernde
Kleid von Oma ist darin. Die Glasperlen, die ich mir gleich an die Ohren klipsen will. Mein Traum in Gold und Orange, den ich leuchten lassen werde.
»Darfst du hier übernachten?«, hat Jan gefragt, als ich mit der Tasche vor der Tür stand. Nein. Darf ich nicht. Doch ich habe einen langen Nachmittag geschenkt bekommen von Andreas und Mama.
Sie haben Papa zu einer Ausstellungseröffnung bequatscht. In Lübeck.
Irgendwas über den Schriftsteller Thomas Mann. Der muss auch ein strenger Typ gewesen sein. Das interessiert Papa.
Dennoch denke ich, dass Papa Verdacht geschöpft hat. Doch er wollte nicht diskutieren, nachdem sich die Wogen ein wenig geglättet hatten, und sicher ist er bemüht, Mama eine Freude zu machen und nicht nur Omas Wohnung zu putzen an diesem Wochenende.
Nachher gehen sie noch zu Niederegger in die Konditorei. Das sind die mit dem Marzipan. Dann haben meine Brüder auch was davon.Andreas und Adrian sind verrückt nach Marzipan.
Das ist nun der zweite Samstag, den mein großer Bruder nicht mit Lena verbringt. Da kann man sich doch nur wundern. Oder?
Ich bin übrigens den ganzen Nachmittag auf einer Chorprobe. Die Konzerte drängen sich vor Weihnachten.
Jan ist in die Küche gegangen, um was zu trinken zu holen.
Ich sehe mich in seinem Zimmer um. Es ist wirklich ziemlich gemütlich.Auf dem Bett liegt eine Tagesdecke,
deren Farben zu meinem Kleid passen. Er hat auch eine kleine rote Lampe im Fenster. Doch im Flur stapeln sich noch die Kartons und die Glühbirnen sind nackt.
Erst habe ich gedacht, dass ich mich schnell umziehen werde, während Jan in der Küche kramt. Doch nun will ich es ganz langsam tun.Vor Jans Augen.Wenn das Papa wüsste.
Jan kommt mit einem Tablett, auf dem zwei hohe Gläser stehen.
Orangensaft ist darin und noch was Rotes.Am Rand der Gläser ist je ein Schnitz Orange. Strohhalme stecken auch darin.
»Was ist das Rote?«, frage ich.
»Kirschsaft«, sagt Jan, »kein Alkohol.«
Ich habe ihm von den Schnapsleichen Hanna und Kalli erzählt, die ich vor einer Woche im Mississippi vorgefunden habe. Kalli, der Blockflötist, der mich mit glasigen Augen anguckte. Hanna, die ohnehin nur Sterne sah.
»Hast du das indische Hemd aus Omas Schrank noch?«, frage ich.
Jan nickt. »Soll ich es anziehen?«, fragt er.
Nein. Ich will ihn so haben, wie er ist. Nur die Jeans soll er anlassen.
Ich fange an, mich auszuziehen.
64
Ganz eng aneinander liegen wir. Auf Jans Bett. Kuscheln statt heizen.
Ich habe nicht im Geringsten daran gedacht, ihn nach den Schrecken der Vergangenheit zu fragen. Erst als ich die gerahmte Fotografie entdeckte, auf dem Holzboden neben dem Bett, kam es mir wieder in den Sinn.
Ein schmaler Silberrahmen. Ein schwarz-weißes Foto. Wie das erste, das ich sah: die junge Frau am Flügel. Doch auf diesem Foto ist sie älter.
»Wie alt war deine Mutter?«, frage ich.
»Als sie starb? Vierundvierzig.«
»Ist sie in Husum beerdigt?«
»Ja«, sagt Jan. Er klingt unwillig.
Warum will ich das alles wissen? Weil ich eine Nervensäge bin?
Ich stehe auf. Das Kleid, das Waterhouse gemalt haben könnte, ist mir über die linke Schulter gerutscht. Mir rutscht immer alles über die linke Schulter.Wahrscheinlich bin ich schief gebaut.
Ich gehe ans Fenster. Es ist noch keine halb fünf, doch schon dunkel.
Meine Familie wird sich in Lübeck auf den Heimweg machen.
»Spielst du mir noch was, bevor ich gehe?«
Jan steht auf. »Was du willst«, sagt er.
Nein. Nicht My heart will go on . Das bringt mich zum Weinen. Das will ich jetzt nicht. Ich bin ohnehin in einer weinerlichen Stimmung.
Ich stehe an den Flügel gelehnt und habe wieder
meine Jeans an und den Angorapullover. Jans Oberkörper ist noch nackt. Dass er nicht friert.
In diesen sechs Zimmern ist es wirklich kalt.
Jan spielt Imagine von John Lennon. Anfang und Ende.
65
Jan hat mich nach Hause gebracht. Unsere Wohnung ist noch leer, doch ich hatte Andreas versprochen, um sechs da zu sein.
Ich lege ein Textblatt auf den Küchentisch. »Es kommt ein Schiff geladen«. Liegt da, wie zufällig abgelegt nach langen
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