Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Opfer. Sie haben schwer erziehbare, angeblich psychisch gestörte Kinder ausgewählt, um einen Eingriff an ihnen vorzunehmen, der zu diesem Zeitpunkt in Deutschland längst verboten war.«
Jennifer hielt kurz inne. Mertens hatte den Kopf gehoben und sah sie nun an. Ein merkwürdiger Ausdruck war in seine Augen getreten, eine Mischung aus Faszination und Interesse, doch er blieb nach wie vor stumm. »Wir hegen am Wahrheitsgehalt der Anzeige von Frau Klein keinerlei Zweifel. Insgesamt musste sie Ihnen bei dreizehn derartigen Operationen assistieren, als Dank dafür, dass Sie der einzige Arbeitgeber waren, der einer ungelernten, alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern überhaupt eine Chance gegeben hat.«
Mertens’ Pflichtverteidiger öffnete den Mund, doch die Kommissarin fuhr unbeirrt fort: »Sie wissen, von welcher Art Operation ich spreche, Herr Mertens, im Gegensatz zu Ihrem Betreuer und Ihrem Anwalt. Auch Frau Klein kannte den Fachausdruck dafür nicht, doch sie hat jeden einzelnen dieser Eingriffe bis ins kleinste Detail beschrieben.«
Jennifer hob den Aktendeckel gerade weit genug an, um ein Blatt hervorziehen zu können. Es war eine kopierte Seite aus dem mehr als dreißig Seiten umfassenden Protokoll von Gerda Kleins Aussage. Die Kommissarin hatte sie inzwischen mehrfach gelesen, trotzdem fiel es ihr schwer, ihre Stimme zu erheben, um daraus vorzulesen.
»Die Zeugin gibt an, dass Herr Doktor Wilfried Kühn die letzten drei Operationen, bei denen sie selbst zugegen war, ohne Betäubung durchgeführt hat. Der erste Eingriff fand Ende September statt. Eine Frau, mutmaßlich die Angestellte eines Erziehungsheims, die die Zeugin nur unter dem Namen Marianne kennt, erschien eine halbe Stunde nach Ende der Sprechstunde mit einem etwa acht Jahre alten Jungen. Der Junge wirkte verstört, weinte und schlug um sich. Die Zeugin bemerkte mehrere Blutergüsse an den Armen und im Gesicht des Jungen, die ihrer Auffassung nach von körperlicher Misshandlung herrührten. Doktor Kühn erschien in der Tür und stellte sofort fest, dass der Patient hysterisch und eine Operation unumgänglich sei. Gerda Klein gibt an, Doktor Kühn und der Frau geholfen zu haben, den Jungen ins hintere Behandlungszimmer zu bringen. Erst dort bemerkte sie, dass die Manschetten zur Fixierung der Patienten verstärkt worden waren und außerdem eine metallische Vorrichtung am Kopfende der Untersuchungsliege angebracht worden war, die den Kopf des Jungen gewaltsam fixierte.
Die Frau namens Marianne habe das Zimmer verlassen, und Doktor Kühn habe dem Jungen ein Medikament gespritzt, das diesen jedoch nicht narkotisierte, sondern lediglich beruhigte. Die Zeugin sagt aus, der Junge habe nicht geschlafen, sei allenfalls leicht schläfrig gewesen, aber nicht mehr in der Lage, sich körperlich zu wehren. Seine Augen seien aber vollkommen klar und er selbst bei vollem Bewusstsein gewesen. Als Doktor Kühn mit dem Eingriff begann, indem er eines der zuvor bereits beschriebenen Instrumente direkt zwischen linkem Auge und Nasenwurzel durch die Augenhöhle in den Schädel einführte, habe der Junge vor Schmerzen geschrien und sich trotz der Medikamentengabe gegen seine Fesseln aufgebäumt. Die Gegenwehr sei so stark gewesen, dass sich der Junge die Zunge zerbissen habe. Sie habe das Blut wegwischen müssen, während Doktor Kühn die Operation durchführte, allerdings weitaus langsamer als sonst. Seinen Selbstgesprächen entnahm die Zeugin, dass er die Wirkung jedes einzelnen Operationsschrittes am Patienten bei Bewusstsein nachvollziehen wollte. Immer wieder unterbrach er den Eingriff, ließ die Instrumente im Schädel des Jungen stecken und machte sich Notizen in seinen persönlichen Tagebüchern. Die Zeugin beschreibt, dass die Gegenwehr des Jungen erlahmte und auch die Schreie irgendwann aufhörten. Als Doktor Kühn die Operation nach mehr als einer Stunde endlich beendete, sei der Junge nicht mehr gänzlich bei Bewusstsein gewesen. Seine Augen starrten leer in Richtung Decke, und er habe kaum noch auf äußere Reize reagiert. Doktor Kühn ließ sie daraufhin allein mit dem Jungen, der in der nächsten Stunde mehrmals unter Krämpfen litt und unverständliche Worte murmelte. Sie könne nicht sagen, ob er irgendwann wieder richtig zu sich gekommen sei, aber als die Frau namens Marianne ihn später mitgenommen habe, sei er gelaufen, wenn auch wie eine an Fäden gezogene Puppe.«
Jennifer senkte das Blatt und begegnete Mertens’ Blick. In den Augen des
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