Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Ihrem Operationstisch spielten für Sie keine Rolle, sie hatten keine Namen. Vermutlich wissen Sie gar nicht, welches Ihrer Opfer auf diese perfide Art und Weise in Ihre Fußstapfen getreten ist. Wir werden ihm aber einen Namen geben. Und dann wird er mit dem Finger auf Sie zeigen und der Welt erzählen, was Sie ihm und vielen anderen angetan haben.«
Grohmann blickte zu Carsten Teubner, der den Mund öffnete und schloss, ohne einen Ton hervorzubringen, und dabei aussah wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Ihr Anwalt will vermutlich gerade sagen, dass wir verrückt sein müssen, wenn wir glauben, einen Mörder als Zeugen gegen Sie positionieren zu können. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich durchaus bereit bin, dieses Risiko einzugehen. Und zwar nicht, weil ich Sie hinter Gittern sehen will, denn für das, was Sie getan haben, werden Sie in Ihrem Alter ohnehin nicht mehr lange genug im Gefängnis sitzen. Sondern, um aus Ihrem eigenen Mund zu hören, wie ein studierter, intelligenter Mann eine derart brutale Operation an gesunden Kindern durchführen konnte, die nachweislich weder therapeutisch noch diagnostisch oder auch nur wissenschaftlich irgendeinen Sinn hatte. Die allein dazu geeignet war, zu zerstören und zu töten.«
Der Pflichtverteidiger stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Das glauben Sie doch selbst nicht. Das wäre beruflicher Harakiri. Vollkommen ausgeschlossen, dass Sie …«
»Halten Sie den Mund.«
»Ich halte nicht … Was?!« Carsten Teubner und Pontus Lohaus starrten Wilfried Mertens ungläubig an.
»Sie sind ungebildet und dumm«, sagte Mertens zu dem Mann neben ihm. »Harakiri war eine rituelle Selbsttötung und bietet sich in diesem Zusammenhang nicht zum Vergleich an.«
»Herr Mertens, Sie …«
»Ich sagte, Sie sollen den Mund halten!«, brüllte der alte Mann und deutete auf die Tür im Rücken von Jennifer und Oliver. Die beiden verfolgten die ganze Szene zwar erstaunt, aber nicht ohne Genugtuung. »Ich brauche Sie nicht. Verschwinden Sie.«
»Was?! Aber Sie sollten …« Mertens’ Blick sagte genug. Teubner schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht, was Sie tun.« Er stand auf, nahm seine Jacke vom Stuhl und rauschte mit hochrotem Kopf hinaus.
Sekundenlange Stille folgte auf das Schließen der Tür.
Jennifer fing sich als Erste. »Herr Mertens, ich muss Sie darauf hinweisen, dass …«
Doch der alte Mann unterbrach auch die Kommissarin. »Sparen Sie sich Ihre Belehrungen, junge Frau. Sie werden mich ohnehin nicht mehr vor ein Gericht bringen.« Sein Blick wanderte jetzt zwischen Jennifer und dem Staatsanwalt hin und her. »Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von der Materie. Sie wagen es, über mich zu urteilen, und werfen dabei mit Halbwissen um sich, das Sie irgendeinem Lexikon oder selbsternannten Experten nachplappern. Dabei ist das alles völlig unausgegoren!«
Absichtlich, mein Freund, absichtlich, dachte Jennifer zufrieden und bedankte sich im Stillen für Doktor Rabes Einschätzung. Er hatte recht gehabt, was die Psyche von Mertens anging. Sein Narzissmus hatte ihn dazu gebracht, wieder mit der von ihm als unwürdig erachteten Umwelt in Kontakt zu treten.
»Sie glauben, die Wahrheit gefunden zu haben? Nichts haben Sie gefunden, und begriffen haben Sie erst recht nichts. Wie all diese verblendeten Ärzte da draußen, die sich Psychiater oder Psychologen nennen. Sie denken, ich weiß nicht, warum Sie hier sind? Es geht Ihnen doch gar nicht um mich, sondern um den Mörder. Sie glauben, ich hätte ihn erschaffen? Ich bitte Sie!« Mertens schüttelte den Kopf. »Die Kinder, die ich behandelt habe, waren nicht gesund, sonst wären sie niemals in Heimen gelandet. Sie beide waren nicht dort, Sie haben nicht mit ihnen gesprochen, sie nicht untersucht. Ich habe diese kranken Seelen operiert, um zu helfen – vielleicht nicht ihnen direkt, aber folgenden Generationen von psychisch Kranken.«
Grohmann konnte seinen Abscheu nicht verbergen. »Das bedeutet also, dass Sie die Kinder zu Testzwecken missbraucht haben?«
»Ich habe die Pionierarbeit geleistet, zu der alle anderen zu feige waren. Inklusive Freeman.«
»Sie sprechen von Walter Freeman«, stellte Jennifer fest. »Dem bekanntesten Verfechter der Lobotomie.«
»Allerdings. Ich bin ihm begegnet. 1968, während meiner Reisen durch die USA . Bevor ich ihn traf, war ich selbst ein verblendeter Schulmediziner und habe keine Therapieform akzeptiert, die mich meine universitäre Ausbildung nicht gelehrt
Weitere Kostenlose Bücher