Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
hatte. Und dann begegnete ich Freeman.« Mertens nickte. »Man hatte ihm verboten zu operieren … Fragen Sie mich nicht, ob er sich daran gehalten hat, doch wenn man ihn auf seine Eingriffe und Überzeugungen ansprach, merkte man schnell, dass er nur den Schwanz vor den Autoritäten eingezogen hatte. Dabei war seine Arbeit wichtig und großartig – und noch lange nicht zu Ende geführt.«
»Er hat Sie überzeugt«, warf Oliver ein, als Mertens nicht weitersprach.
»Überzeugt, oh ja. Ich habe erkannt, was alle anderen nicht sehen wollten, oder sagen wir, nicht mehr sehen wollten, schließlich wurde einem von Freemans Vorreitern der Nobelpreis in Medizin für die Entwicklung dieser Methode verliehen – und im Übrigen bis heute nicht aberkannt. Freeman lag richtig. Nicht mit allem, denn er hat selbst verkannt, auf welch fruchtbarem Weg er sich befand. Seine Methode war der Grundstein für die Möglichkeit zur Heilung, es bedurfte nur entsprechender Weiterentwicklung. Ein zeitraubender Prozess, fürwahr, aber wichtig und notwendig! Ich betone: die Möglichkeit zur Heilung! Im Gegensatz zur Wirkung dieser neumodischen Medikamente, die in den Siebzigern auf den Markt kamen und weitaus mehr Menschen umgebracht haben als die Lobotomie.«
»Psychopharmaka.« Jennifer beobachtete den Mann genau. Langsam begann sie sich zu fragen, ob der psychiatrische Gutachter in seinem Fall tatsächlich richtiglag. Er hielt ihn für gesund, dabei sprach Mertens wie ein Mensch, der sich krankhaft auf eine Idee versteift hatte und durch nichts mehr davon abzubringen war. Aber der Psychiater hatte schließlich auch nie mit ihm sprechen können. »In der Anfangszeit hatten diese Medikamente sicher einige unerwünschte Nebenwirkungen, aber selbst Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass die Pharmazie erstaunliche Fortschritte gemacht hat.«
Mertens stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Haben Sie jemals mit psychisch Kranken ernsthaft gesprochen, sie über einen längeren Zeitraum begleitet und beobachtet? Diese Medikamente heilen nicht. Psychopharmaka maskieren, pfuschen in der Gehirnchemie herum, machen aus kranken Menschen funktionierende Roboter. Mit Heilung hat das nichts zu tun. Heilung ist allein auf der physischen Ebene zu erreichen.«
Grohmann war versucht, ihn nach den Hintergründen seiner Überzeugungen zu fragen, ließ es aber sein. Er hatte kein Interesse an einem Vortrag, der vermutlich zum Großteil aus Fachbegriffen bestehen würde, die er noch nie gehört hatte.
»Daran habe ich gearbeitet. Und ich war auf dem richtigen Weg. Sie sagen, ich hätte diese Menschen geschädigt, Verrückte aus ihnen gemacht, dabei beweisen Sie mir doch gerade das Gegenteil! Ich habe aus einem verrückten, kranken Jungen einen Mann gemacht, der zu geplanten Taten fähig ist, der Intelligenz beweist und Sie offenbar zum Narren hält! Kein Wrack, das nur noch apathisch auf einem Stuhl herumsitzt! Meine Absicht war es sicherlich nicht, Mörder zu erschaffen, aber dieser Mann ist ein Beweis für den Nutzen meiner Arbeit. Seine Entwicklung ist bemerkenswert, dennoch natürlich als Fehlschlag anzusehen. Fehlschläge sind aber nun einmal unerlässlich und notwendig.«
»Wie viele Fehlschläge?«, fragte Jennifer. »Wie viele sind gestorben?«
»Erwarten Sie ernsthaft Zahlen von mir, nachdem dieses undankbare Miststück dafür gesorgt hat, dass ich vor dreißig Jahren auf dem Höhepunkt meiner Forschungen all meine Aufzeichnungen und Erkenntnisse vernichten musste? Die Frau hat meine Arbeit und mein Leben zerstört!«
»Danach haben Sie nicht mehr operiert?«
»Auf die Frage antworte ich nicht.«
Falls Mertens verrückt war, war er jedenfalls nicht verrückt genug, um sich nicht über seine Situation im Klaren zu sein. »Sie sind also der Meinung, dass die Ursachen für psychische Erkrankungen in den physischen Strukturen des Gehirns zu finden sind und operativ behoben werden können. Warum haben Sie sich dann nie mit der modernen Neurochirurgie beschäftigt?«
»Modern. Neurochirurgie. Wenn ich das schon höre … MRT , CT … Mit alldem werden Sie nie die Antworten finden, die Sie suchen. Was wissen die Ärzte und Wissenschaftler da draußen schon über das menschliche Gehirn? Nichts, rein gar nichts. Sie probieren aus, was sie sich zutrauen, was für die Gesellschaft akzeptabel ist. Aber Ergebnisse kann man ausschließlich am lebenden Versuchsobjekt erzielen.«
»So wie Sie.«
»Ich weiß, dass Sie anderer Meinung sind. Aber
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