Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Minuten später in ihrer Bürotür – der einzigen, durch die noch Licht auf den Flur fiel.
Jennifer saß an ihrem Schreibtisch und scrollte durch eine der vielen Dateien, die sie im Laufe der letzten Woche angelegt hatte. Ein Notizblock lag neben der Tastatur, doch noch war das oberste Blatt Papier leer. Oliver wusste, dass sie ihn bemerkt hatte, obwohl sie ihn mal wieder ignorierte. Sie wussten beide, warum er hier war, und keiner wollte das Gespräch eröffnen.
Oliver nutzte die Zeit, um sie zu beobachten und sich zu fragen, wieso es ihm so verdammt schwerfiel, ihr die Stirn zu bieten. Es wäre einfach gewesen, Möhring anzurufen und ihm zu sagen, er solle sie einen Tag beurlauben. Er hätte ihr verdammt viel Ärger machen können, wenn er gewollt hätte. Die Erkenntnis, dass er es vermutlich bei jedem anderen im Kommissariat längst getan hätte, half keinesfalls, ihn für die bevorstehende Auseinandersetzung zu wappnen.
Wieder einmal hatte Jennifer die längere Geduldspanne. »Du bist noch hier?«
Jennifer zuckte nicht zusammen oder schien sonst irgendwie überrascht zu sein. »Ja, wieso?«
»Es ist halb sieben«, stellte Oliver fest. »Seit einer halben Stunde Feierabend.«
»Ich bin gleich weg«, erwiderte sie nur.
Er verdrehte die Augen und murmelte lautlos einen Fluch. Nicht schon wieder dieses Spielchen. Er betrat den Raum, setzte sich an Marcel Meyers Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wann ist dieses ›gleich‹?«
»Ich mache hier nur noch etwas fertig.«
»Und wie lange wird das noch dauern?«
Sie zuckte die Schultern. »Mal sehen.«
»Was war an meiner Anweisung eigentlich nicht zu verstehen?«, fragte Oliver schließlich ruhig. »Mittwoch, achtzehn Uhr, Ende. Nur dieses eine Mal.«
Jennifer sah noch immer nicht von ihrem Bildschirm auf. »Ich habe sie verstanden. Und du solltest wissen, was ich davon halte.«
Oliver wusste nicht, woher plötzlich die Wut kam, die ihn dazu brachte, aufzustehen, über den Tisch zu langen und das Stromkabel aus ihrem Bildschirm zu ziehen.
»Hey, verdammt noch mal, was …?« Als sie seinen Blick sah, verstummte Jennifer, doch ihre Überraschung wurde schnell wieder vom Zorn verdrängt. »Was, zum Teufel, soll das?!«
»Du gehst jetzt nach Hause«, erwiderte Oliver ungerührt.
»Um was zu tun?«, blaffte Jennifer. »Um hier alles stehen- und liegenzulassen und tatenlos auf die nächste Leiche zu war ten?«
»Um wieder zu Kräften zu kommen, dir eine Auszeit zu nehmen, wenn auch nur für ein paar Stunden. Um etwas Schlaf nachzuholen, dich auszuruhen. Um einen gottverdammten Abend lang mal etwas anderes zu sehen als Tod, Tod und nochmals Tod!«
»Willst du das den Angehörigen des nächsten Opfers erklären?«, fragte sie ruhig, doch ihr Zorn schwang noch immer in ihrer Stimme mit. »Dass wir unseren Schönheitsschlaf gebraucht und dadurch Zeit verloren haben? Das wäre eine wundervolle Vorlage für die Presse.«
»Was tust du denn da gerade? Die Akten zum x-ten Mal durchgehen?« Er deutete auf den leeren Block, der schon beinahe anklagend auf dem Schreibtisch lag. »Das führt zu nichts, und das weißt du genau. Wir sind alle am Limit, Jennifer. Wir sind Menschen, wir haben Grenzen. Je erschöpfter wir sind, desto eher machen wir Fehler oder übersehen wichtige Details. Das ist meine Meinung dazu.«
»Dann sind wir offensichtlich unterschiedlicher Meinung. Was willst du dagegen tun?«
»Einen Befehl daraus machen?«, fragte Oliver kalt. »Wenn du eine Eskalation möchtest, die sich auf deine Personalakte niederschlägt und höchstwahrscheinlich die Interne auf den Plan ruft, kannst du das gerne haben. Deine Entscheidung.«
»Wieso, zum Teufel …« Jennifer verstummte und erwiderte seinen Blick. Mehrere Sekunden verstrichen. Er konnte deutlich sehen, dass sie nach einem Anflug von Schwäche in seinen Augen suchte, den sie glücklicherweise aber nicht fand.
Oliver hatte offiziell keine personelle Weisungsbefugnis ihr gegenüber, doch er konnte Möhring anrufen. Der Leiter der Einsatzabteilung würde seine Ansicht teilen, das wussten sie beide. Ihr blieb nichts anderes übrig, als klein beizugeben. »Also schön. Wie du willst. Ich packe meine Sachen, und wenn es dir so viel Freude bereitet, darfst du mich sogar bis zum Auto begleiten.«
Als sie tatsächlich ihren Rucksack vom Boden aufhob, um die leeren Wasser- und Cola-Flaschen hineinzustopfen, die sich über die vergangenen Tage angesammelt hatten, verspürte Oliver
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