Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
ein Sechsundzwanzigjähriger es mit einer Sechzehnjährigen überhaupt ernst meinen?
Sie grübelte noch immer vor sich hin, als sie das Haus erreichte und durch den Vorgarten ging. Erst das leise, aber deutlich vernehmbare Geräusch sich streitender Stimmen holte sie aus ihren Gedanken. Hannah hielt inne, die Hand bereits in Richtung Klingel ausgestreckt.
Die Stimmen gehörten eindeutig Tobias und seiner Schwester. Hannah war Selina am Montag nur kurz im Haus begegnet, als diese sich etwas aus der Küche geholt hatte. Ohne ihre Kostümierung wirkte sie nicht halb so beeindruckend wie auf der Vernissage, und ihre Augen hatten eine Kälte ausgestrahlt, die Hannah ungut in Erinnerung geblieben war.
Jetzt zum ersten Mal ihre Stimme zu hören, tief und melodisch, obwohl sie schrie, war irritierend. Hannah verstand nur vereinzelte Wortfetzen, hörte aber genug, um zu wissen, dass es um sie und ihren Besuch ging. Selina war mit der Verabredung ihres Bruders offensichtlich nicht einverstanden, die Gründe dafür gingen allerdings in wütendem Grummeln unter.
Schließlich wurde es im Inneren des Hauses wieder still. Hannah wartete. Keinesfalls wollte sie, dass Tobias merkte, dass sie etwas von dem Streit mitbekommen hatte. Erst als die Kälte deutlich spürbar durch ihre Winterjacke drang, klingelte sie.
Tobias öffnete mit einem Lächeln, das echte Freude ausdrückte und Hannahs Herz sofort einen kleinen Sprung machen ließ. Ihm war nicht anzumerken, dass er sich gerade eben noch heftig gestritten hatte. »Komm rein. Schön, dass du da bist.« Mit einer knappen Geste bat er sie in den Flur.
Selina saß auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie hob nur kurz den Kopf, als Hannah eintrat. In ihren Augen tanzten noch immer wütende Flammen. Selbst wenn Hannah der Streit der Geschwister entgangen wäre, hätte sie spätestens jetzt gemerkt, dass Selina sie keinesfalls willkommen hieß. Ihr Blick hätte nicht feindseliger sein können.
»Lass uns nach oben gehen«, schlug Tobias vor. Er trat zwischen Hannah und die Couch, sodass er seine Schwester verdeckte.
Diese sprang im selben Moment auf und rauschte in den Flur. »Lasst euch von mir nicht stören. Ich habe ohnehin zu tun.« Sie nahm ihren Mantel von der Garderobe. »Wichtige Angelegenheiten.«
Angelegenheiten, bei denen Tobias sie offensichtlich hätte unterstützen sollen. Zumindest hörte Hannah einen entsprechenden Vorwurf aus Selinas Stimme heraus.
Tobias beantwortete ihn allerdings nur mit einem Lächeln. »Tu das. Ich bin mir sicher, du wirst zurechtkommen.«
»Immer doch.« Mit diesen Worten machte Selina kehrt und verließ das Haus.
Tobias schüttelte seufzend den Kopf. »Tut mir leid«, sagte er schließlich und wandte sich wieder Hannah zu. »Sie ist manchmal etwas schwierig.« Dann lachte er plötzlich freudlos auf. »Was heißt hier manchmal, eigentlich immer.«
»Sie scheint mich nicht zu mögen«, stellte Hannah leise fest.
»Selina mag niemanden. Sie hasst die Menschheit aus tiefstem Herzen.« Endlich erschien wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Kein Grund, sich den Kopf zu zerbrechen.« Er musterte sie einen Moment, bevor er auf das Sofa deutete. »Setz dich doch. Ich bin gleich wieder bei dir.«
Hannah spürte, wie ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief. Von einem zum anderen Moment, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre, hatte sich seine Stimme verändert. Seine Augen wirkten dunkler, und selbst sein Gang war anders, als er sich umdrehte und in der Küche verschwand. Als wüsste er genau, welchem seiner Charaktere sie den Vorzug gab, hatte sich Tobias erneut in Jesaja verwandelt.
Wenig später kehrte er mit einer dampfenden Tasse zurück und reichte sie ihr mit einer beinahe feierlichen Geste. »Für dich.«
»Was … was ist das?«, fragte Hannah überrascht. Der Geruch nach Marzipan und Mandeln stieg ihr in die Nase.
»Tee. Du scheinst ein wenig durchgefroren zu sein.«
War ihr ihre Wartezeit in der Kälte so deutlich anzusehen? Dankbar nahm sie die Tasse entgegen. Ein heißes Getränk war genau das Richtige, um sich aufzuwärmen. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte sie seine warmen Finger über ihre Hand streichen. Die Berührung mochte nicht beabsichtigt gewesen sein, trotzdem ließ sie Hannahs Herz augenblicklich schneller schlagen.
Sie hielt die Tasse in beiden Händen und pustete vorsichtig über die Oberfläche. Jesaja beobachtete sie dabei die ganze Zeit. Sein Blick ruhte auf ihr, und ein mysteriöses Lächeln kräuselte
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