Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Schröder wirkte Horst Neubert auf dem Tisch der Rechtsmedizin nicht mehr annähernd so lebendig wie auf den am Fundort geschossenen Fotos. Seine Haut sah im künstlichen Licht aschfahl und grau aus, der Gesichtsausdruck hatte sich durch den Rückgang der Leichenstarre verändert und wirkte jetzt eher wie ein verzerrtes Grinsen.
Neuberts Körper war, soweit Jennifer es sehen konnte, unversehrt, nur die Male am Hals, die auf Erdrosseln als Todesursache hinwiesen, traten inzwischen deutlich hervor. Dass das Herz fehlte, fiel nun, da bereits mehrere Organe entnommen worden waren, nicht einmal mehr auf. Die vielen überschüssigen Hautlappen, vor allem am Bauch und an den Oberschenkeln, die zuvor von der Kleidung verdeckt worden waren, hatten zweifelsfrei die Vermutung des Professors genährt, dass das Opfer früher einmal ziemlich fettleibig gewesen war.
Jennifer wartete geduldig, Oliver stand schweigend neben ihr. Sonst diskutierte er während Obduktionen gerne Einzelheiten des Falls, bis sich Meurer gestört genug fühlte, um ihn um Ruhe zu bitten, da er auf seinen Tonbändern kein Hintergrundgemurmel gebrauchen konnte. Heute war der Staatsanwalt ungewöhnlich still, und Jennifer ertappte sich dabei, wie sie sich fragte, ob er wohl noch immer über den gestrigen Abend, über diese wenigen Sekunden nachdachte.
Der Professor wandte sich schließlich dem Schädel zu und untersuchte die Kopfverletzung, die Kopfhaut hatte er bereits gelöst. »Keine Anzeichen für eine Schädelfraktur. Eine nicht allzu tiefe Riss-Quetsch-Wunde. Wenig Blutverlust. Öffnung der Schädeldecke wird vorbereitet.« Meurer griff gerade zur elektrischen Säge, als das schrille Klingeln von Grohmanns Handy ihn unterbrach.
Der Staatsanwalt warf dem Rechtsmediziner einen schuldbewussten Blick zu, dann lief er mit dem Smartphone in der Hand aus dem Saal und schloss die Tür hinter sich.
Meurer starrte ihm wütend hinterher. Es gab Regeln im Reich des Rechtsmediziners, an die man sich besser hielt, wenn man nicht seinen Unmut erregen wollte. Handys auf Vibration zu stellen, gehörte dazu. Eine Regel, die Oliver Grohmann nun schon zum wiederholten Male gebrochen hatte.
»Wenn sein Handy hier noch einmal während einer Obduktion klingelt, erteile ich ihm Hausverbot«, grollte der Professor in Jennifers Richtung, eine harmlose Drohung, denn letztlich konnte er einen Staatsanwalt nicht ausschließen.
Jennifer zuckte nur die Schultern und ging zu dem Schrank hinüber, in dem der Professor Schutzkleidung und Masken aufbewahrte. Wenn er zur elektrischen Säge griff, war es dafür allerhöchste Zeit. Sie kam allerdings nicht mehr dazu, sich eine Schürze überzuziehen, denn Oliver kehrte in den Saal zu rück.
Sie konnte seine Aufregung spüren, obwohl er rein äußerlich die Ruhe selbst war. Er winkte Jennifer nach draußen.
»Was ist los?«, fragte sie, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte.
»Scholz war am Apparat. Ein Anwalt hat gerade bei ihm angerufen und gesagt, er müsse uns dringend Unterlagen übergeben, die mit den Morden in Zusammenhang stehen. Mehr wollte er am Telefon nicht sagen. Er erwartet uns.«
»Was denn für ein Anwalt?«
Oliver schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich habe lediglich den Namen des Mannes und die Adresse eines Altenheims.«
»Eines Altenheims?!«
»Der Typ hat gesagt, er sei der Betreuer eines Bewohners.« Oliver zuckte die Schultern. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Wo?«
»Wiesbaden.«
»Wiesbaden?! Wieso ausgerechnet Wiesbaden?!«
Olivers Blick fragte sie stumm, woher er das wissen sollte.
Jennifer deutete auf die Tür zum Obduktionssaal. »Was ist mit der Autopsie?«
»Scholz meint, wir könnten in diesem speziellen Fall die Vorschriften sausen lassen, und ich bin ganz seiner Meinung. Immerhin brechen wir kein Gesetz, es besteht also keine Gefahr, wenn die Sache vor Gericht kommt.«
»Das hörte sich bei unserer ersten Begegnung aber noch ganz anders an«, erwiderte Jennifer. Damals hatte er mit ihr noch die Abwesenheit ihres Partners diskutiert.
Oliver zuckte die Schultern. »Ich wollte dir nur auf den Zahn fühlen.«
Jennifer seufzte. »Hätte ich mir ja denken können.« Mit diesen Worten marschierte sie an ihm vorbei in Richtung Ausgang.
Eineinhalb Stunden später betraten sie den Eingangsbereich eines Altenheims, das in einem grauen, unansehnlichen Block inmitten eines nicht gerade ansprechenden Wohnviertels weitab des Wiesbadener Stadtzentrums lag. Die Inneneinrichtung erwies sich
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