Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
in die Rolle des Repräsentanten seines Vaters Sutekh zu schlüpfen. Das alles nur, weil Malthus durch den Zufall seiner Geburt als Jüngster den Kürzeren gezogen hatte. Vielleicht auch weil er unvorsichtigerweise ein oder zwei Mal ansatzweise so etwas wie Interesse für Sutekhs Diplomatie gezeigt hatte. Und schon war sein Schicksal besiegelt.
Malthus hielt inne, als er hinter sich ein verdächtiges Geräusch hörte. Er drehte sich langsam um und traute seinen Augen nicht. Das verschwommene graue Etwas, das ihm gegenüberstand, nahm allmählich Gestalt an. Es war die Gestalt seines Bruders Dagan.
Es war schwierig genug gewesen, Osiris dazu zu bringen, überhaupt einen aus Sutekhs Gefolge an sich heranzulassen. Das hatte seinen Grund. Immerhin war Sutekh derjenige gewesen, der ihn einst in ziemlich viele Einzelteile zerlegt und sein bestes Stück an die Fische verfüttert hatte, sehr zum Unwillen seiner Gemahlin Isis. Da konnte man ihm einen gewissen Groll gegen Sutekh nicht verdenken. Und Isis genauso wenig.
„Was hast du denn hier verloren?“, fragte Malthus. Er versuchte nicht einmal, seinen Unmut über Dagans Auftauchen zu verbergen. „Willst du unbedingt Ärger machen?“
„Nicht unbedingt“, antwortete Dagan und baute sich breitbeinig vor Malthus auf. „Du kannst verschwinden. Ich mach das.“
Malthus lachte auf. Unter Sutekhs Regiment hatte keiner von ihnen die Freiheit, sich seine Rolle auszusuchen. Und Malthus’ Rolle war es nun einmal, den Unterhändler zu spielen, ob er es wollte oder nicht. Dagan den Job zu überlassen, kam nicht infrage, so verlockend das Angebot auch sein moch te.
„Nett gemeint, Dae.“ Malthus machte eine Bewegung, alswollte er eine Katze verscheuchen. „Aber jetzt sei artig und geh nach Hause.“
„Die Idee ist an sich nicht schlecht. Aber du wirst der brave Junge sein und umkehren.“ Dagan imitierte die scheuchende Bewegung seines Bruders. „Ich gehe zu Osiris.“
„Ihr werdet gerichtet werden“, flüsterte wieder einer der Wächter.
„Halt die Klappe, du Kasper“, brummte Dagan.
Malthus verzog das Gesicht. Dann unternahm er einen letzten Versuch, seinen großen Bruder umzustimmen. „Wenn Sutekh befiehlt, erwartet er Gehorsam.“ Das klang aus seinem Mund etwas merkwürdig, denn Malthus war alles andere als ein Musterknabe und hatte selbst Probleme mit der Autorität seines Vaters. Dennoch wollte er nichts unversucht lassen.
Zum einen brachte er seine Brüder außer Gefahr, wenn er einsprang. Aber es gab noch einen anderen Grund, den Malthus in Anwesenheit von Osiris’ Prätorianergarde nicht laut aussprechen wollte. Er wollte mit Osiris von Angesicht zu Angesicht sprechen und versuchen herauszufinden, was der Gott wusste. Er glaubte Osiris’ Beileidsbekundung zu Lokans Tod nicht, die ihnen auf einem golden schimmernden Papyrus geschickt worden waren. Er könne den Schmerz um den Verlust nachfühlen, stand da, zumal er durch seinen Bruder Sutekh dasselbe Schicksal erlitten habe wie der Getötete.
Sehr vielschichtig. Was zum Teufel wollte Osiris damit andeuten? Dass er Lokan hatte töten lassen? Um Seth heimzuzahlen, was er ihm angetan hatte? Seth, der Gott der Wüste, Herr des Chaos, Gott der Stürme und der Finsternis. Seth. Seteh – so viele vergessene Namen und Titel, die am Ende nur auf einen hinausliefen: Sutekh.
Für seine Söhne war Sutekh vor allem anderen immer noch der Vater. Dagan nannte ihn den „Alten“, Alastor nannte ihn „Dad“ und Malthus beließ es beim bloßen Namen. Sutekh. Das war das Neutralste. Denn er verachtete seinen Vater, auch wenn er ihn liebte.
Dann stellte sich die Frage, warum Osiris ausgerechnet jetzt, nach einer halben Ewigkeit, auf Rache sann. Oder hatte Osiris mit seinem Kondolenzschreiben darauf anspielen wollen, dass Lokan vielleicht einem Anschlag der eigenen Brüder zum Opfer gefallen war, so wie auch er durch den eigenen Bruder verfolgt und getötet worden war? Das war natürlich vollkommen absurd. Malthus hatte sich über Osiris’ Verlautbarung lange den Kopf zerbrochen.
Deshalb war er jetzt fest entschlossen, seinen Weg fortzusetzen, und versuchte, sich, begleitet von den Warnungen der Wächter, an Dagan vorbeizuschieben. Doch sein Bruder packte ihn am Arm und hielt ihn fest. Seine grauen Augen funkelten warnend in dem grünlichen Licht, das sie umgab. Malthus entdeckte jedoch auch Sorge und Zuneigung in Dagans Blick.
Dagan beugte sich zu ihm und flüsterte so leise, dass es kaum zu verstehen war:
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