Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
noch atmen konnte.
Sie spürte seine Körperwärme am Rücken und seine Bartstoppeln an der Schläfe. Er hatte die Kraft einer Güterzuglokomotive. Sie hatte dem nichts entgegenzusetzen, und ihr fiel auch nichts mehr ein, womit sie sich hätte zur Wehr setzen können.
Gottverdammter Mist.
In ihrer bedrängten Lage bekam sie kaum noch Luft, aberimmerhin noch so viel, dass sie seine Haut roch, ein frischer, sinnlicher Duft, der ihr bekannt vorkam und ferne Erinnerungen in ihr wachrief. Schon bevor er das erste Wort gesprochen hatte, wusste sie, wer hinter ihr stand.
„Hallo, Roxy.“ Seine dunkle Stimme, rau und sanft zugleich. Tausend Mal hatte sie sie schon in ihren Träumen gehört. Aber ihren Namen hatte sie ihm in jener Nacht nicht verraten. Sie hörte ihn jetzt zum ersten Mal aus seinem Munde, und es elektrisierte sie.
Elf lange Jahre. Roxy hatte gebetet, sie möge ihm nie wieder begegnen, und gleichzeitig auf ihn gewartet. Für einen Moment fühlte sie sich zurückversetzt, zurückgebeamt in einen kahlen Raum in einer verlassenen Fabrik in Chicago, in dem es nach Schimmel und Schweiß gerochen und in dem der nackte Terror geherrscht hatte.
Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien, aber sein Gewicht lastete wie ein Zementblock auf ihr. Da halfen ihr weder die übersinnlichen Kräfte noch die erprobten Kampftechniken. Sie hatte es nicht mit einem Normalsterblichen, sondern mit jemandem zu tun, der ihr in allen Belangen überlegen war.
„Wie schön, dich wiederzusehen, Roxy“, sagte er leise an ihrem Ohr.
„Sehr viel Zeit hast du dir ja nicht genommen, um mich anzusehen.“
Er lachte. Sie spürte das Beben seines Körpers.
„Geh weg!“, presste sie keuchend hervor.
Einen Moment lang passierte nichts. Er drückte den Oberschenkel und das Becken von hinten an sie. Sie nahm jedes Zucken seiner Muskeln wahr.
„Ich soll weggehen?“, fragte er amüsiert. „Ich denke gar nicht da ran.“
Roxy geriet mehr und mehr in Panik, während sie verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Angst war ihr ohnehinvon Grund auf verhasst, aber selbst Angst zu empfinden, das war unverzeihlich. Sie hatte bei der Isisgarde etwas anderes gelernt.
Sie hatte Calliopes Stimme noch im Ohr, wie sie gepredigt hatte: Wut ist besser als Angst, und List ist besser als Wut. Wie ein Schwamm hatte Roxy die Ratschläge ihrer Lehrerin aufgesogen.
Aber was war jetzt angesagt? Eingekeilt zwischen dem Reaper und der Wand, wobei sich die eine Seite so wenig wegschieben ließ wie die andere, konnte sie mit einem Wutausbruch nicht viel ausrichten. Sie konnte nicht einmal einen Fuß für einen gezielten Tritt heben. Der Mann hinter ihr erstickte die kleinste Bewegung im Keim. Eine List wollte ihr auch nicht einfallen.
Sie spürte seinen Atem im Nacken, und ihr Herz schlug wie verrückt. Dennoch zwang sie sich mit aller Gewalt, ruhig zu bleiben. Ihr blieb nur eine Chance. Sie musste sich auf ihren Instinkt verlassen und darauf vertrauen, dass sie im richtigen Moment eine Eingebung hatte.
„Nun hör schon auf, so herumzuzappeln. Ich will nur …“ Roxy gab einen Laut von sich, der wie ein Knurren klang, und hieb ihre Zähne in seinen Unterarm – fest genug, um ihm Schmerzen zu bereiten, aber nicht so fest, dass er blutete. Es genügte, dass sie vor elf Jahren diesen Fehler gemacht hatte.
Er zog kurz und scharf die Luft durch die Zähne und zuckte mit dem Arm zurück. Dabei ließ er ihr ein bisschen Spielraum. Es waren nur ein paar Millimeter, aber sie genügten Roxy. Das Adrenalin schoss ihr in die Adern. Mit einem Ruck bekam sie einen Arm frei und rammte ihm den Ellenbogen in die Rippen. Er machte zwar eine ausweichende Bewegung, aber dieses Mal landete der Treffer. Roxy gab sich nicht der Illusion hin, dass der Schlag große Wirkung zeigen würde. Trotzdem verbuchte sie mit Genugtuung einen Punkt für sich. Das war gut für die Kampfmoral und setztegleichzeitig noch zusätzliche Kräfte frei.
Sie drehte sich in den Hüften, stemmte sich mit der Schulter gegen die Wand, und bevor er sie ein zweites Mal an die Wand presste, hatte sie den Arm zwischen sich und ihn gebracht und griff ihm in den Schritt. Wie zur Warnung drückte sie seine Hoden zunächst nur ein wenig zusammen.
„Zieh Leine, Arschloch!“, zischte sie.
„Ich will nichts weiter als eine Information“, raunte Dagan ihr zu. Ihn schien das alles nur zu belustigen.
„Dann ruf die Auskunft an.“ Wenn er sich einbildete, ihre Warnung wäre nicht ernst gemeint gewesen,
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