Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
sicher nicht.
Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf ihren italienischen Kronleuchter. „Ich dachte, du hast es lieber dunkel.“
„Das stimmt. Aber im Gegensatz zu dir komme ich dir entgegen. Du hast es lieber hell, nicht?“
„Mich gegen die Wand zu knallen und mir die Haare auszureißen, ist eine reizende Art von Entgegenkommen. Geradezu überwältigend.“
„Mit dem Messer auf mich loszugehen ist auch nicht viel besser.“
„Zuerst bist du ja wohl auf mich losgegangen.“ Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht, und auch ihre Mundwinkel zuckten. Nicht zuletzt, weil sie so etwas wie Respekt aus seinen Worten heraushörte.
Dagans Lächeln wurde breiter, bei dem Anblick schlug ihr Herz schneller. So, wie er jetzt vor ihr stand, sah er haargenau aus, wie sie ihn in Erinnerung behalten hatte und wie er ihr unzählige Male in den Träumen erschienen war, die sie seit über zehn Jahren verfolgten. Er war schön – schön wie eine glatt polierte, zuverlässige Waffe, die einem gut in der Hand lag. Roxy hatte eine Schwäche für Waffen.
„Jetzt lauf nicht weg. Ich hab dich ja doch gleich wieder“, meinte er, während er den Griff um ihre Handgelenke löste. „Wenn ich dir noch einmal hinterherlaufen muss, werde ich wirklich böse.“
Er zog das Messer heraus, das ihm noch immer im Bein gesteckt hatte. Sofort begann die Wunde wieder zu bluten. Dann riss er zwei lange Stoffstreifen vom Saum seines T-Shirts, faltete den einen sorgfältig zu einem kleinen Kissen, presste den Stoff auf die Wunde, legte den anderen Streifen darüber und zog den provisorischen Druckverband straff um seinen Oberschenkel. Während er damit beschäftigt war, ließ er Roxy keine Sekunde aus den Augen.
Kurz überlegte sie, ob sie doch fliehen …
„Denk nicht mal daran.“
„Mach ich nicht.“ Jedenfalls jetzt nicht mehr.
Ein wenig Blut sickerte noch durch den Verband und hinterließ einen etwa zehn Zentimeter langen Fleck auf seiner Jeans. Roxy konnte das Blut riechen und musste ihr spontanes Verlangen danach zügeln. Sonst hätte sie sich gebückt, ihm den Verband wieder abgerissen und ihn ausgesaugt, bis nichts mehr kam. Sie hatte immer wieder mit ihrer parasitären Natur zu kämpfen, aber selten war es ihr so schwer gefallen, sich zu beherrschen, wie in diesem Augenblick.
Dass ihr Verlangen gerade bei ihm so übermächtig war, mochte daran liegen, dass er das Blut eines Halbgottes hatte. Vielleicht hing es aber auch damit zusammen, dass die erste Begegnung mit ihm sie erst zu diesem Vampir gemacht hatte, der sie inzwischen geworden war. Er hatte damals die Weichen für ihr weiteres Leben gestellt. Er war, so paradox das klang, ihr Schöpfer, aber gleichzeitig Todfeind ihrer Gattung und demnach ihr Feind.
Und nach dieser für sie so folgenschweren Begegnung war er einfach verschwunden. Hatte er überhaupt einen Gedanken an sie verschwendet? Sicher nicht. Sie hatte sich allein zurechtfinden, fallen, aufstehen und wieder fallen müssen, bis sie fast so weit gewesen war aufzugeben. Sie hatte begonnen, ihn zu verfluchen und zu hassen.
Und von ihm zu träumen. Das war das Schlimmste, die vielen Nächte, in denen sie um sich schlagend und schweißnass aufgewacht war, weil sie von ihm geträumt hatte. Davon, dass er zu ihr kam und sie miteinander schliefen. Wenn sie aufgewacht war, hatte sie sich für diese Träume geschämt, verachtet und sich noch mehr gehasst als ihn.
Dagan drehte das Messer in der Luft und reichte es ihr mit dem Griff nach vorn.
Roxy lachte trocken. „Was willst du? Soll ich dir auch noch ins andere Bein stechen?“
„Versuch es, dann breche ich das Messer durch. Und anschließend breche ich dir die Finger.“
Sie sah ihn an und wusste, dass er es ernst meinte. Aber anscheinend war er nicht darauf aus, sie zu töten. Er brauchte sie lebend. Er wollte noch etwas von ihr.
„Erinnerst du dich noch an mich?“, fragte er.
Was für eine dämliche Frage. „Sicher erinnere mich an dich, Weißbrot, Reaper Boy.“ An jedes Detail jener Nacht erinnerte sie sich, als wäre es gestern gewesen. An den Gestank, an die zerfetzten Leichen am Boden, an die Schreie und denganzen Terror. Aber auch daran, dass er auf eine merkwürdige Art freundlich und fürsorglich gewesen war. Sie hatte seine Stimme nach all den Jahren noch im Ohr und erinnerte sich daran, wie er ihre Wange flüchtig berührt, sie gestreichelt hat te.
Im Jahr danach hatte sie drei Psychotherapeuten verschlissen. Stockholmsyndrom,
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