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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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folgen, und bin gelähmt. Ich glaube zu sterben, es ist schrecklich. Dann tritt ein Soldat zu mir und schlägt mich mit dem Gewehrkolben ins Gesicht. Davon wachte ich jedes Mal auf. Mein ganzes Denken und Fühlen kreiste immer wieder um dieselben Fragen: Was hatte ich getan, um dieses Elend zu verdienen? Warum wurde ich verstoßen?«
    Er sank zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Schuppendecke. Ich beobachtete ihn eine Weile, fuhr mit meinen Fingern sanft über seine Lippen.
    »Und das hat mit der Zeit nachgelassen?«, fragte ich mit leiser Stimme.
    »Nein, nicht mit der Zeit.«
    »Wie dann?«
    Thar Thar schwieg.
    »Bist du heute kein Gefangener mehr?«, beharrte ich.
    »Nein, oder wirke ich wie einer?«
    »Bestimmt nicht. Wie hast du dich befreit?«
    »Ich beschloss zu lieben.«
    »Kann man das einfach so beschließen?«, fragte ich zweifelnd.
    »Nicht einfach so.«
    »Kann man es überhaupt beschließen?«
    »Nein, wahrscheinlich nicht«, erwiderte er nachdenklich und drehte sich zu mir. Seine Augen leuchteten, wie in den ersten Tagen. Ich schlang ein Bein um seine Hüfte und drückte ihn noch näher an mich heran. »Du hast recht. Sagen wir einfach, die Liebe kam zu mir. Eines Tages stand sie vor meiner Tür und bat um Einlass. Sie war lange unterwegs gewesen, und ich schickte sie nicht fort. Ich war mir sicher, ein zweites Mal würde sie sich nicht die Mühe machen.«
    »Was hat die Liebe mit deiner Gefangenschaft zu tun?«
    »Nur wer liebt und geliebt wird, kann verzeihen. Und nur wer verzeiht, ist ein freier Mensch. Wer vergibt, ist kein Gefangener mehr.«

8
    E s war das Zimmer, in dem der Schmerz zu Hause war.
    Und die Trauer.
    Und die Stille. Wer es betrat, sprach mit gedämpfter Stimme. Wer es verließ, sagte lange gar nichts.
    Es drangen keine Geräusche auf den Flur, abgesehen von gelegentlichem Stöhnen. Beängstigend und unheimlich. Dann schlich sie auf Zehenspitzen an der Tür vorbei und versteckte sich im Wohnzimmer hinter den Sofas.
    Sie war überzeugt, dieses Stöhnen käme vom Teufel, der sich ihrer Mutter bemächtigt hatte und nur darauf wartete, auch über sie herzufallen. Sie machte sich so klein sie konnte und wartete. Auf den Abend. Auf den Schlüssel im Schloss. Auf jene Stimme, die sie vor allem Bösen beschützte. Selbst vor dem Teufel.
    Im Zimmer, in dem der Schmerz zu Hause war, stank es nach Medizin. Nach verbrauchter Luft. Nach Einsamkeit.
    Der bittere Duft unerfüllter Wünsche und Hoffnungen, enttäuschter Liebe, hatte sich über die kostbaren Teppiche gelegt, er war bis in den Schrank vorgedrungen, hatte Hemden, Hosen, Jacken und Kostüme verpestet. Selbst vor den Stofftapeten hatte er nicht haltgemacht.
    Sie war zu jung, um die Quelle dieses üblen Geruchs zu kennen, ertragen konnte sie ihn trotzdem nicht. Wenn sie über den Flur ging, hielt sie sich die Nase zu.
    In dem Zimmer, in dem der Schmerz zu Hause war, blieben die Vorhänge den ganzen Tag geschlossen. Lichtdurchflutete Räume seien Gift für die Kranke, behauptete der Arzt.
    Licht dringt in die hintersten Ecken vor. Es folgt dem Un glück in sein Versteck. Licht macht sichtbar. Es tut in den Augen weh. Und in der Seele.
    Manches ist nur in einer ewigen Dämmerung zu ertragen. Wenn überhaupt.
    Es war nur ein Zimmer im Haus. Eines von vielen. Aber die Stille, die dort herrschte, reichte bis in den letzten Winkel.
    Sie versuchten alles zu vermeiden, was Krach machen konnte.
    Sie flüsterten, selbst im Erdgeschoss.
    Sie sangen nicht, obgleich sie und ihr Vater es gern taten.
    Sie lachten nicht.
    Sie empfingen keine Gäste. Freundinnen musste sie absagen, Geburtstage fielen aus. Blumen welkten.
    So stellte sie sich die Hölle vor.
    Dort wollte sie nicht enden. Ihr Haus würde große Fenster haben ohne Vorhänge. Die Türen würden immer offen stehen. Gedämpfte Stimmen wären verboten. Und Flüstern auch. Wer es betreten wollte, musste versprechen, jede Stunde fünfmal laut zu lachen. Mindestens.
    Von einem Tag auf den anderen war jedes Mal alles vorbei.
    Die Vorhänge wurden geöffnet. Und die Fenster. Das gelegentliche Stöhnen klang nun anders, immer noch unheimlich, aber nicht mehr beängstigend.
    Die Stimmen waren nicht mehr gedämpft.
    Sie sang und lachte mit ihrem Vater manchmal so heftig, dass ihnen die Tränen kamen und sie nicht aufhören konnten.
    Als könnten sie all die ungelachten Lachen nachholen.
    Der bittere Duft unerfüllter Wünsche und Hoffnungen aber blieb. Vor ihm kapitulierten

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