Herzenstimmen
Streifen darum herum war abgeholzt, sodass man einen weiten Blick zurück ins Tal hatte. Es gab viele kleine Tempel und Altäre, auf denen Reis, Blumen und Früchte als Opfergaben lagen. In die Nischen einer gemauerten Wand hatten die Gläubigen Dutzende von Buddhafiguren gestellt.
Die Spitze der Pagode war vergoldet, ein paar Glöckchen bimmelten im Wind, die dem Tal zugewandte Seite war weiß gestrichen, doch die Rückseite bestand aus bloßem Mauerwerk, durch das sich ein tiefer Riss zog. Aus den Ritzen sprossen Gräser und verschiedene Pflanzen, die an manchen Stellen die Steine überwucherten, und der hintere Teil wies eine so starke Neigung auf, dass er schon längst hätte einstürzen müssen.
Von der Seite sah es aus, als würden die Gesetze der Schwerkraft hier nicht gelten.
»Die muss jeden Moment umfallen«, sagte ich mit einem skeptischen Blick.
»Den Eindruck macht es«, erwiderte Thar Thar. »Eine Legende besagt, dass diese Stupa über die Jahrhunderte mehrmals von Erdbeben zerstört und immer wieder aufgebaut wurde. Vor einigen Jahrzehnten gab es einen neuen Erdstoß, der sie so schwer beschädigte, wie du sie heute siehst. Seitdem glauben die Menschen, dass sie einstürzt, doch es gibt offenbar eine Kraft, die sie davor bewahrt. Dieser Kraft gelten die ganzen Altäre. Wer hierher kommt und eine Opfergabe hinterlässt, hofft, diese Kraft, dieser Geist, möge auch ihn beschützen.«
Er holte aus einer Tasche eine Thermoskanne und goss mir heißes Wasser in den Deckel, kramte eine Tüte Nescafé hervor und eine Packung Kekse. Er nahm einen Keks heraus und legte ihn vor einen der Altäre. Dann legte er die Hände vor der Brust aneinander, schloss die Augen und verneigte sich.
»Worum hast du gebeten?«, fragte ich neugierig.
»Ich habe um nichts gebeten. Wir haben uns nur kurz unterhalten.«
»Wer?«
»Der Geist der Stupa und ich.«
»Worüber?«
»Über die Zerbrechlichkeit des Glücks. Die Unmöglichkeit, es zu beschützen. Und Kekse. Er liebt Kekse.«
»Wo hast du die her?«
»Ich war heute Morgen schon in Hsipaw«, sagte er in einem Ton, als wäre es ihm unangenehm.
Wir setzten uns in den Schatten der Stupa. Es war still, ein leises Blätterrauschen war alles, was wir hörten. »Erzähl mir von dir«, bat er.
»Schon wieder? Von meinem großen Kampf gegen Produktpiraten?«
Thar Thar überging meinen Selbstspott. Lächelnd sagte er: »Was immer dir wichtig ist …«
Ich trank nachdenklich einen Schluck Kaffee. Schaute ins Tal und begann irgendwann zu erzählen: von einer jungen Frau, die sich auf die Suche machte.
Die fürchtete, wahnsinnig zu werden. Auch wenn der Wahnsinn nicht in ihrer Familie lag. Nicht diese Art.
Einer jungen Frau, die unachtsam gewesen war. Neun Wochen alt. Groß wie ein Streichholz. Natürlich nicht lebensfähig. Noch lange nicht. Und trotzdem.
Die vergessen hatte, wie zerbrechlich die Liebe war. Wie kostbar. Wie viel Licht sie braucht. Wie viel Vertrauen. Wie dunkel es wird, wenn die Lüge ihre Flügel ausbreitet.
Die vergessen hatte, wovon sie sich nährt. Wie viel Zuwendung sie braucht.
Die in den letzten Tagen daran erinnert wurde und sehr dankbar dafür war.
Thar Thar hörte aufmerksam zu, zwischendurch wünschte ich, er würde mich in den Arm nehmen oder wenigstens meine Hand berühren, doch er bewegte sich nicht.
Nachdem ich geendet hatte, blickte ich ihn an. Unsicher und mit rasendem Herzen.
Ich stand auf und stellte mich vor ihn, nahm seinen Kopf in meine Hände. »Thar Thar.« Sein Blick ging mir durch den ganzen Körper. »Ich …«
Er hielt mir einen Finger vor den Mund, erhob sich und küsste mich, wie ich noch nie geküsst worden war. Warum musste ich achtunddreißig Jahre alt werden, um mich in einem Kuss so verlieren zu können?
»Erzähl mir von dem Herzenstimmer, den du kanntest.«
»Das ist lange her«, antwortete er zögernd und setzte sich wieder. »Warum fragst du?«
»Weil ich mehr von dir wissen möchte.«
»Noch mehr? Du weißt so viel. Mehr als ich.«
»Aber das Wichtigste weiß ich nicht: Was ist dein Geheimnis?«, fragte ich und hockte mich neben ihn.
»Wie kommst du darauf, dass ich ein Geheimnis habe?«
»Warum bist du kein gequälter Geist?«
»Ich war es. Die meiste Zeit meines Lebens.«
»Ich weiß, aber du bist es nicht mehr. Warum nicht? Wer hat dich gelehrt zu verzeihen? Pater Angelo?«
Er schüttelte stumm den Kopf.
»Ko Bo Bo?«, fragte ich.
Er senkte den Blick und deutete ein Nicken an.
Waren er und Ko
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