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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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weil ich darauf keine Antwort hatte.
    »Ich weiß nicht. Was meinst du?«
    U Ba schaute mich von der Seite an. »Das hängt von dir ab.«
    »Warum?«
    »Es gibt kein Büro, in das ich zurückmuss. Ich habe niemanden, der auf mich wartet. Von mir aus können wir noch eine Woche bleiben. Oder zwei. Oder drei …«
    »Wie lange wir bleiben«, sagte ich leise, »hängt davon ab, was wir hier wollen.«
    Er nickte.
    Auch darauf hatte ich keine Antwort. Die Stimme hatte sich zurückgezogen, wie es der alte Mönch in New York prophezeit hatte. Ich rechnete nicht mehr damit, dass ich, nachdem wir Thar Thar gefunden hatten, noch einmal von ihr hören würde. Was also hielt mich in diesem Kloster? Ich wollte darüber nicht nachdenken. Ich wollte mit Moe Moe Kartoffeln und Ingwer ernten, Gemüse putzen, Englischunterricht geben.
    Ich wollte von Thar Thar das Geheimnis des Herzenstimmers erfahren.
    »Willst du nicht irgendwann nach Amerika zurück?«
    »Natürlich«, behauptete ich. »Aber ich bin nicht in Eile.«
    Mit Mulligan hatte ich eine unbegrenzte, unbezahlte Auszeit vereinbart, da kam es auf zwei oder drei Wochen mehr oder weniger nicht an. Mein Visum war vier Wochen gültig, im Internet und in mehreren Reiseführern hatte ich gelesen, es gäbe bei der Ausreise keine großen Probleme, wenn man länger bleibe, abgesehen von einer bescheidenen Strafgebühr am Flughafen.
    Wer oder was wartete auf mich?
    Amy. Und sonst?
    »Was sagt deine Intuition?«, fragte mein Bruder.
    Ich drückte kurz seinen Arm. »Keine Ahnung. Ich habe dir doch gesagt, dass die nicht immer so gut funktioniert.« Nach einer kurzen Pause fragte ich zurück: »Und deine?«
    »Dass wir bald fahren werden«, sagte er ernst.
    »Warum?«
    »Weil ich fürchte, dass wir sonst zu viel Unruhe an diesen Ort bringen.«
    »Was meinst du damit?«, fragte ich erstaunt. »Was für Unruhe?«
    »Ich kann es schlecht in Worte fassen. So ist das mit der Intuition.«
    »Du weichst mir aus.«
    »Vielleicht.«
    »Was für Unruhe?«, insistierte ich. »Ich habe das Gefühl, alle freuen sich über unsere Anwesenheit. Oder verstehe ich wie der etwas falsch? Deute ich ihre Zeichen nicht richtig? Ist ihr Lachen, wenn sie mich sehen, kein Ausdruck von Freude, sondern von Unsicherheit? Verlegenheit? Haben sie Angst vor mir?« Ich gab mir gar keine Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen.
    »Nein, nein. Du verstehst nichts falsch. Es ist nur so …« Er machte eine Pause, hob wieder an, seufzte tief. »… Ich meine … ich will sagen … wir wollen doch nicht ins Kloster ziehen, oder?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Und der Abschied wird umso schwerer fallen, je länger wir bleiben.«
    »Du meinst, ich würde zu traurig …«
    »Nicht nur uns«, unterbrach er mich.
    In der Nacht weckte mich ein gleichmäßiges, rhythmisches Kratzen oder Fegen. Als würde jemand in der Dunkelheit den Hof kehren. Ich lauschte. Der Atem meines Bruders. Die Schlafenden nebenan. Das Geräusch entfernte sich langsam, verebbte allmählich, bis es ganz verschwand. Kurz darauf hörte ich wieder die dumpfen, kräftigen Schläge aus den vergangenen Nächten, begleitet von angestrengtem Stöhnen und zersplitterndem Holz.
    Meine Armbanduhr zeigte 3 Uhr 32. Ich stand auf und schlich in die Halle. Thar Thars Schlafstätte war leer.
    Draußen hatte der Mond alles in ein weißes, kaltes Licht getaucht. Der Bambus warf einen tanzenden Schatten auf den gefegten Hof. Thar Thar stand vor dem Schuppen, schwang eine Axt und hieb mit brachialer Gewalt auf einen Klotz ein. Die Klinge bohrte sich in das Holz, er spreizte die Beine, wuchtete es hoch über die Schulter, stemmte es über den Kopf und ließ dann die Axt mit dem Klotz auf einen zweiten, noch größeren Klotz niedersausen, sodass das Holz unter seinem eigenen Gewicht in zwei Teile zerbarst.
    Ich zog mir eine Jacke über und ging hinaus.
    Es war ein seltsamer Anblick: ein Mönch, barfuß, in rotbrauner Kutte, die er über den Knien zusammengebunden hatte, beim Holzhacken. Thar Thar war so in seine Arbeit versunken, dass er mein Kommen nicht bemerkte. Links und rechts lagen große Haufen frisch geschlagene Scheite.
    »Was machst du da?«
    »Ich hacke Holz«, antwortete er, ohne sich umzudrehen.
    »Das sehe ich. Weißt du, wie spät es ist?«
    »Nein. Ist das wichtig?«
    »Warum machst du das nicht am Tag?«
    Die Axt fuhr mit einer solchen Wucht in den nächsten Stumpf, dass der Boden unter mir vibrierte.
    Ich erschrak über Thar Thars Anblick. Der Schweiß stand

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