Herzenstimmen
Bo Bo ein Liebespaar gewesen? Sie hätten ein Geheimnis miteinander gehabt, hatte Maung Tun gesagt. Ich war zu überrascht, um weiter zu fragen. Nicht nur über diese Wendung der Geschichte. Ich fühlte eine Eifersucht in mir aufsteigen, die ganz schnell ihre tiefschwarzen Schatten warf.
»Was hat euch Maung Tun eigentlich über ihn erzählt?«, wollte Thar Thar plötzlich wissen.
»Nicht viel. Dass er einer der jüngsten unter den Trägern war. Klein und schmächtig, aber sehr tapfer.« So unbefangen wie möglich fügte ich hinzu: »Dass ihr sehr gute Freunde gewesen seid.«
Thar Thar schluckte mehrmals. »Das ist alles?«
»Mehr oder weniger.«
»Hat er keine Vermutungen über mich und Ko Bo Bo geäußert?«
»Doch, dass ihr euch sehr mochtet«, erwiderte ich aus weichend.
»Mehr nicht?«
»Nein.«
Thar Thar nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Ko Bo Bo hatte ein Geheimnis.«
Ich schwieg und wartete, dass er fortfuhr.
»Ich war zufällig auf dem Hof, als der Lastwagen mit ihm ankam. Wir hatten gerade drei Tote aus dem Sterbehaus verscharrt und waren auf dem Weg in unsere Hütte. Die meisten der neuen Träger standen bereits ängstlich in einem Kreis neben dem Wagen. Ko Bo Bo hatte sich in die hinterste Ecke der Ladefläche verkrochen und wollte nicht absteigen. Erst als die Soldaten nach ihm traten, erhob er sich und kletterte langsam herunter, in den Händen ein Bündel mit seinen Sachen. Ich sah auf den ersten Blick, dass er anders war als die anderen. Die Art, wie er sich bewegte. Wie er die Soldaten anschaute. In seinem Blick lag zwar die gleiche furchtbare Angst wie bei allen von uns, aber auch noch etwas anderes. Ich hielt es für Stolz oder einen unangebrachten Trotz, und es dauerte lange, bis ich begriff, was es wirklich war.
Bei uns hockte er in den ersten Tagen im dunkelsten Teil der Hütte, ohne etwas zu essen oder ein Wort zu sagen. Immer wieder setzte sich einer von uns zu ihm und versuchte mit ihm zu reden, doch er schwieg. Ich fürchtete, dass er sich zu Tode hungern wollte, und nahm ihn eines Abends, als er bereits schlief, zu mir. Er war so leicht, als ich ihn hochhob und zum Schlafen neben mich legte. Irgendwann umklammerte er plötz lich meine Hand und ließ sie nicht mehr los. Er war wach und wollte wissen, was ich glaubte, wie viel Zeit ein Mensch braucht, um zu sterben. Eine Sekunde? Eine Stunde? Einen Tag oder ein Leben? Ich verstand die Frage nicht, und wir begannen ein langes Gespräch. Ich mochte seine Stimme, besonders wenn er flüsterte. Sie klang so sanft und melodisch, fast als singe er.
Ko Bo Bo war nicht so roh wie der Rest von uns, und wir fingen schnell an, uns anzufreunden. Am Anfang hatte ich das Gefühl, ihn beschützen zu müssen, klein und schmächtig, wie er war. Aber schon unser erster Einsatz zusammen war so grausam, und er so tapfer und mutig. Er hat einem Säugling das Leben gerettet, hat euch Maung Tun davon erzählt?«
»Ja.«
»Da wusste ich, dass er meinen Schutz nicht brauchte. Jedenfalls nicht mehr oder weniger als jeder andere. Wir hätten alle jemanden gebraucht, der uns schützt. Vor den Soldaten. Vor den Rebellen. Vor uns selbst. Aber das ist etwas anderes, das meine ich nicht. Ko Bo Bo konnte für sich selber sorgen. Und für andere.
Für mich hatte es in meinem Leben noch keinen Menschen gegeben, mit dem ich mich so seelenverwandt fühlte. Ich habe seither viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, woran es lag. Wenn er in meiner Nähe war, ging es mir gut. Ein seltsamer Satz, wenn man bedenkt, wo wir uns befanden, aber so verhielt es sich. Er gab mir Ruhe, ohne viel Worte zu verlieren. Er gab mir Freude ohne Grund. Grundlose Freude ist die schönste und schwierigste. Er gab mir Lebensmut. Seine Anwesenheit, ein Blick, ein Lächeln, genügte, und ich wusste, ich war nicht allein. So einfach war es, so kompliziert. Kannst du mir folgen?«
»Ja«, antwortete ich noch einmal, obwohl ich mir nicht sicher war, dass das stimmte. Ich wollte ihn nicht mit einer Frage unterbrechen.
»Das war das größte Geschenk. Nicht allein zu sein an einem Ort, wo jeder nur an sich und sein Überleben dachte. Wo sie dich tot geprügelt hätten, wenn man ihnen versprochen hätte, dafür einen Tag länger leben zu dürfen. Einsamkeit ist die schlimmste Strafe. Dafür sind wir nicht geschaffen. Ich habe viele Träger und manchen Soldaten sterben sehen. Wenn sie vor ihrem Tod noch die Kraft hatten, etwas zu sagen, haben sie alle nach anderen Menschen
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