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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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spürte, wie mich eine Trauer packte und schüttelte, als wäre sie ein Jagdhund und ich seine lang gehetzte Beute.
    Mit aller Kraft versuchte ich, meine Tränen zu unterdrücken. Ich wollte nicht weinen, doch mit jeder Sekunde, die ich dagegen ankämpfte, wuchs meine eigene Trauer.
    Ich wusste nicht, wie lange wir dort ausharrten. Allmählich beruhigte sich Thar Thars Atem. Ich küsste ihn auf den Kopf. Er schaute zu mir hoch. Mit Augen, in denen die Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen hatte und in denen nun trotzdem wieder ein Leuchten lag. Ich nahm sein Gesicht in meine Hände und küsste ihn auf die Stirn.
    Einmal. Zweimal.
    Ich streichelte ihn, seinen Mund, seine Lippen. Ich küsste ihn auf Wangen und Nase, als könnte ich mit diesen Küssen meine eigene Trauer vertreiben.
    »Spricht meine Mutter jetzt zu dir?«, flüsterte er.
    »Nein.«
    »Sagt sie, du sollst mich küssen?«
    »Nein. Nein. Nein.«
    Manchmal vereinen sich Menschen in der Freude. Sie werden eins in ihrem Glück: Sie verschmelzen für ein paar kostbare Sekunden, weil ein Mensch allein die Intensität des Augenblicks gar nicht ertragen könnte.
    Und manchmal vereinen sich Menschen in der Trauer. Sie werden eins in ihrem Schmerz: Sie verschmelzen für ein paar kostbare Sekunden, weil ein Mensch allein die Intensität des Augenblicks gar nicht ertragen könnte.
    Thar Thar und ich hatten uns in den Schuppen verkrochen. Ich lag in seinen Armen. Ein fremder, aber nicht unangenehmer Geruch strömte mir entgegen. Mein Körper zitterte noch immer. Seiner auch.
    Zwei heftig pochende Herzen, die sich gar nicht mehr beruhigen wollten.
    Trotz der kühlen Nachtluft war mir warm. Er strich mir zärtlich meine verschwitzten Haare aus dem Gesicht.
    Ein sanftes Lächeln.
    »Wann hast du die Stimme zum letzten Mal gehört?«, fragte er leise.
    »In Kalaw«, erwiderte ich und überlegte. »Was wäre, wenn sie sich jetzt meldet? Würdest du mit ihr sprechen wollen?«
    Thar Thar wartete lange mit einer Antwort.
    »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, das möchte ich nicht.«
    »Jetzt nicht?«
    »Gar nicht.«
    »Du hast keine Fragen an deine Mutter?«, wunderte ich mich.
    »Nicht mehr.«
    »Nach allem, was passiert ist?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Die Zeit ist vorbei.«
    »Hasst du deine Mutter?«
    »Nein.«
    Ich dachte über seine Antworten nach, küsste ihn auf die Nasenspitze. »Würdest du nicht wenigstens wissen wollen, war um sie …?«
    »Nicht mehr«, unterbrach er mich. »Hättest du mich im Lager gefragt, wäre es etwas anderes gewesen.«
    Er richtete seinen Oberkörper ein wenig auf und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Damals war ich voller Hass. Ich war so böse, so bitter, wenn du an meinem Herzen hättest lecken können, du hättest dich vergiftet. Im Lager waren wir alle Gefangene. Selbst die Soldaten und Offiziere. Alle. Bis auf einen.«
    Thar Thar schaute mich prüfend an, als wolle er sehen, ob ich ihm folgen konnte.
    »Bis auf einen?«
    »Wir waren Gefangene unseres Hasses«, fuhr er fort, ohne auf meine Frage einzugehen. »Gefangene unserer Verzweiflung. Unserer Verbitterung. Unserer Trauer.
    Wir wären Gefangene geblieben, auch wenn sie uns freigelassen hätten. Wer einmal in einem Lager war, trägt dieses Lager in sich für den Rest seines Lebens. Wem einmal Gewalt angetan wurde, der trägt diese Gewalt in sich. Wer einmal verraten worden ist, der trägt diesen Verrat in sich. Wie oft habe ich mit meiner Mutter gehadert. Sie verflucht. Sie gefragt, war um sie Ko Gyi behalten hat und nicht mich. Was ich ihr getan hatte, um schon als Kind ihre Kälte zu verdienen. Ich wollte Antworten auf Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Ich bin durch den Dschungel gelaufen und habe gehofft, endlich auf eine Mine zu treten. In tausend Stücke sollte sie mich reißen. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens im Kerker meiner Wut und Verbitterung verbringen. Es ist ein kalter, dunkler und furchtbar einsamer Ort. Der Tod war der einzige Weg aus diesem Verlies. So dachte ich, bis ich eines Besseren belehrt wurde.
    Im Traum sah ich oft meinen Bruder und meine Mutter vor mir stehen. So nah, dass ich ihren Atem auf meiner Haut spüre. Plötzlich drehen sie sich um und gehen fort. Hand in Hand. Ohne ein Wort. Ich versuche, hinterherzulaufen, kann mich aber nicht bewegen. Ich will ihnen nachrufen, sie sollen auf mich warten, und bekomme keinen Ton heraus. Sie gehen einen Weg entlang, werden kleiner und kleiner, ich will nichts sehnlicher als ihnen

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