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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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ihm auf der Stirn, lief Wangen und Nacken hinunter. Seine schönen Augen waren klein und schmal, die vollen Lippen gepresst, er war außer Atem. Im fahlen Licht des Mondes sah er älter aus. Erschöpfter als am Tag. Einsamer.
    »Ich habe schlecht geträumt. Das tue ich manchmal. Holzhacken hilft.«
    »Wogegen?«
    »Schlechte Träume. Böse Geister. Erinnerungen«, sagte er schnaufend.
    »Was für Erinnerungen?«
    Thar Thar hielt inne, die Axt über dem Kopf, und schaute mich zum ersten Mal an.
    »Das möchtest du nicht wissen.«
    »Und wenn doch?«
    Er zögerte, wandte sich ab und schlug wieder mit aller Kraft zu.
    »Und wenn doch?«, rief ich. Laut und fordernd.
    Er ignorierte mich.
    Es krachte. Splitter flogen durch die Luft. Ein Holzscheit landete direkt vor meinen Füßen. Ich machte einen Schritt auf Thar Thar zu. Und noch einen. Sollte das Holz beim nächsten Hieb wieder so splittern, würde es mich verletzen. Vielleicht war dies der Augenblick, dachte ich. Vielleicht war diese monderleuchtete Nacht der richtige Zeitpunkt, ihm zu sagen, was ich wusste. Was der eigentliche Grund war für meine Reise.
    Ich dachte an Nu Nu.
    An Fäuste, die einen Bauch traktierten.
    An Opfergaben für einen Kindstod.
    Ich sah eine Klinge durch die Luft fliegen und stellte mir vor, wie sie auf ein Huhn niedergeht, das Kinderhände festhalten.
    Thar Thar hieb die Axt mit halber Kraft ins Holz und wandte sich mir zu.
    »Was willst du?«, fragte er außer Atem.
    »Mit dir reden.«
    »Worüber?«
    »Schlechte Träume. Erinnerungen.«
    »Warum?«
    »Weil ich dir etwas erzählen muss.«
    Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, stützte sich mit beiden Händen auf den Stiel der Axt und blickte mich schweigend an. Mit Augen, in denen die Vergangenheit Spuren hinterlassen hatte.
    »Ich bin keine gewöhnliche Touristin.«
    »Ich weiß.«
    »Woher?«, fragte ich überrascht. Hatte U Ba ihm doch etwas erzählt?
    »Intuition.«
    »Weißt du auch, warum ich gekommen bin?«
    »Nein. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wissen will.«
    »Warum nicht?«
    »Seit Jahren habe ich nicht mehr so schlecht geträumt wie in den vergangenen Nächten.«
    »Du glaubst, das liegt an mir?«
    »Ja.«
    »Warum denkst du das?«
    »Weil etwas von dir ausgeht, das mich beunruhigt.«
    »Vielleicht bin nicht ich es, die dich so unruhig macht«, sagte ich.
    »Wer dann?«
    Und so begann ich zu erzählen.
    Von einer Stimme, die keine Ruhe geben wollte. Und von einer jungen Frau, die plötzlich und unerwartet aufstand. Weil etwas in ihr widersprach.
    Von einer Mutter, in deren Herzen nicht genug Platz war. Aber ein anderes hatte sie nicht.
    Von einer alten Frau, die eine grausame Geschichte nicht für sich behielt.
    Einen kannst du behalten.
    Den anderen nehmen wir.
    Als ich geendet hatte, sank ich erschöpft auf einen Holzstumpf. Mein ganzer Körper zitterte.
    Eine unheimliche Stille umgab uns. Der Wind hatte sich gelegt, selbst die Insekten hatten sich zur Ruhe begeben. Ich hörte nur Thar Thars schweren Atem.
    »Hältst du mich jetzt für verrückt?«, fragte ich vorsichtig.
    Thar Thar setzte sich auf einen Klotz mir gegenüber. Unsere Knie berührten sich. Er schüttelte den Kopf.
    Ich sah, wie Tränen seine Wangen hinunterrannen, und nahm seine Hände. Sie waren eiskalt. Ich stand auf und nahm ihn in den Arm. Drückte seinen Kopf fest an meinen Bauch, er vergrub sich in meinen Händen, in meiner Jacke. In mir. Sein leises Schluchzen.
    Hätte ich ihm nicht alles erzählen sollen?
    Ich stellte mir Nu Nu, Maung Sein, Ko Gyi und Thar Thar vor und dachte, dass es Familien gibt, in denen das Glück einfach nicht zu Hause ist. Oder doch nur ein sehr flüchtiger Gast, und wie weit der Schatten des Unglücks reicht. Familien, in denen jeder an Liebe gibt, was er geben kann, und es trotzdem nicht reicht. In denen jeder teilt, soweit es in seinen Kräften steht, und die Herzen trotzdem hungern. Ohne Schuld. Ohne dass Böses gewollt wird. In denen Verletzungen entstehen, für die ein Leben nicht ausreicht, sie zu heilen.
    Der Ort, an dem alles beginnt. Die Liebe. Die Sehnsucht danach. Die Angst davor.
    Der Ort, dem wir niemals entkommen. An dem die Herzen zu groß sind oder zu klein. Zu begierig oder zu satt.
    An dem wir wehrlos und schutzlos sind wie nirgendwo sonst.
    Weil Liebe keine Gerechtigkeit kennt. Auch die einer Mutter oder eines Vaters nicht.
    Ich sah eine Hütte aus Stroh vor mir und ein Haus in der 64th Street der Upper East Side Manhattans, und ich

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