Herzenstimmen
Klageschrift einreichen. Wir müssen unserem Mandanten unsere Strategie erklären, ein Teil davon ist mein Job. Was passiert, wenn sie sich mitten in der Präsentation wieder meldet?«
Sie überlegte. »Dann bleibst du ganz ruhig und sagst ihr, dass sie warten muss.«
Ich seufzte. »Sie hört nicht auf mich.«
»Dann ist das eben so.«
»Amy!« Warum verstand sie mich nicht? »Ich kann es mir nicht leisten, so die Kontrolle zu verlieren. Ich muss funktionieren. Ich male keine Bilder. Ich habe nicht die Wahl.«
»Die haben wir immer.«
Es gab nichts, worüber wir uns leidenschaftlicher streiten konnten. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die äußere Zwän ge akzeptierten. Für Amy waren wir alle für unser Schicksal selbst verantwortlich. Ausnahmslos.
Alles, was wir taten, hatte Konsequenzen. Und für diese waren wir verantwortlich. Wir hatten die Wahl. Ja oder nein.
Das Leben ist zu kurz für Umwege.
Wer einen Traum hat, muss ihn leben.
Ich leerte mein Glas und schenkte mir nach. »In meinem Kopf traktiert mich eine Stimme. Ich will wissen, woher sie kommt. Ich will wissen, wie ich sie wieder loswerde. Und zwar so schnell wie möglich.«
»Dann musst du zum Arzt und es mit Medikamenten versuchen. Ein Psychiater wird dir helfen können. Zumindest kurzfristig.«
Ich sah in ihren Augen, in der Art wie sie die Lippen kräuselte, wie wenig sie von der Idee hielt.
»O . k., und was würdest du machen?«
»Ich bin überzeugt, dass diese Stimme einen Sinn hat.«
»Und welcher könnte das sein?« Mein skeptischer Ton war nicht zu überhören.
»Du hast in diesem Jahr viel durchgemacht. Du hast viel verloren …« Sie machte eine bedeutungsschwere Pause.
Das Gespräch nahm eine Wendung, gegen die ich mich sträubte. Es gab Sachen, über die ich nicht reden wollte. Auch mit Amy nicht. »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber mit dem, was im Frühjahr geschehen ist, hat die Stimme nichts zutun.«
»Bist du sicher?«
»Absolut. Wie kommst du darauf?«
Sie zuckte mit den Schultern. »War nur eine Idee.«
Wir tranken unseren Wein, aßen Nüsse und sagten lange nichts.
»Du verlangst viel von dir.«
»Tun wir doch alle.«
»Quatsch. Du bist der selbstdisziplinierteste Mensch, den ich kenne. Du gönnst dir seit Jahren keine Pause.«
»Wir beide waren im Sommer auf Long Island«, widersprach ich.
»Zwei Tage. Dann musstest du früher zurück, weil Mulligan dich brauchte. Als du dich von Michael getrennt hast und ausgezogen bist, hast du auf den Umzugkartons gesessen und Briefe an Mandanten geschrieben, weil es angeblich wahnsinnig wichtige Terminsachen gab, die keinen Aufschub duldeten.«
»Sie waren wichtig«, entgegnete ich mit matter Stimme.
»Du warst gerade dabei, deinen Freund zu verlassen, mit dem du drei Jahre zusammengelebt hattest. Du bist nicht die einzige Anwältin in eurer Kanzlei.«
Ich nickte.
»Vielleicht ist diese Stimme ein Zeichen …«
»Du glaubst, ich höre eine Art unterdrücktes Ich, das ich immer vernachlässigt habe, stimmt’s? Aber ich führe keinen inneren Dialog mit mir. Die Stimme ist real. Ich höre sie. Ich kann sie dir beschreiben.«
»Wie klingt sie?«
»Älter als ich. Ein wenig kratzend manchmal. Tief für eine Frau. Streng.«
Ein bedächtiges Schweigen war ihre Antwort.
»Ich habe Angst«, sagte ich leise.
Sie nickte, ihr Blick wanderte an mir vorbei auf ein großes Bild an der Wand. Ein roter Kreis auf einem dunkelroten Hintergrund, darauf hatte sie ganze Hände voll rot gefärbter Hühnerfedern geklebt. »Buddha im Hühnerstall« stand darunter.
»Ich fahre übernächste Woche für ein paar Tage aufs Land. Hast du Lust mitzukommen?«
Ich schüttelte den Kopf. Amy zog sich regelmäßig zum Meditieren in ein buddhistisches Zentrum in Upstate New York zurück. Sie hatte mich schon häufiger gefragt, ob ich sie nicht begleiten wollte, und ich hatte sie jedes Mal vertröstet. Mir war es ein Rätsel, wie sie eine Stunde oder auch länger still sitzen und an nichts denken konnte. Die wenigen Male, die ich es in Yogakursen versucht hatte, gingen mir so viele Gedanken, Bilder und Erinnerungen durch den Kopf, dass ich es kaum aushielt. Ich hatte das Gefühl, er würde gleich platzen. Jedes Mal brach ich die Übung nach wenigen Minuten ab. Amy glaubte, es hätte mir nur an der richtigen Anleitung gefehlt, ich bezweifelte das.
Langsam spürte ich den Wein, und eine fast lähmende Müdigkeit überkam mich.
»Ich glaube, ich mach mich auf den Weg.«
»Du kannst gern
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