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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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treten. In einem Buch habe ich gelesen, dass wir lernen müssen, mit unserem dritten Auge zu sehen. Dort liegt die Lösung. Aber wie sehe ich mit meinem dritten Auge? Hat da jemand praktische Erfahrung? Ist das die Lösung? Ich will nicht verzweifelt klingen, aber die Stimmen fangen an, mir zu sagen, was ich tun soll. Das macht mir Angst. Hat jemand eine Idee, was ich tun kann?«
    »Sleeping-beauty« antwortete: »Hast du es mit Beten versucht? Jesus hat die Antwort. Er hat auf alles eine Antwort, du musst ihm nur vertrauen. Er will, dass du ihm vertraust und …«
    Ich schloss die Seite hastig und klappte den Computer zu. Mit dieser Welt wollte ich nichts zu tun haben. Ich hatte keine psychischen Probleme. Meine Mutter litt unter Depressionen und nahm Prozac. Meine Schwägerin auch. Einige meiner Kollegen. Ich nicht.
    Ich glaubte weder an höhere Mächte noch an dritte Augen.
    An Arbeiten war nicht mehr zu denken. Mich hatte eine innere Unruhe gepackt, die mich den ganzen Tag über nicht losließ. Ich räumte auf wie eine Besessene. Wischte die Regale in der Küche aus. Putzte alle meine Schuhe. Sortierte alte Kleidung aus.
    Ich ging in den Central Park joggen und konnte nicht mehr aufhören zu laufen. Meine Beine gehorchten mir nicht, ich rannte das Dreifache meiner üblichen Strecke, eine Distanz, von der ich vorher nicht für möglich gehalten hätte, dass ich sie bewältigen könnte. Ich rannte ohne Pause, trotz schmerzender Füße und einem rasenden Herz, etwas trieb mich immer weiter. Krämpfe in den Beinen zwangen mich schließlich aufzuhören. Ich lehnte mich an einen Baum am Rande der Strawberry Fields und übergab mich.
    In der Nacht wurde ich von einem elenden Schluchzen geweckt. Im ersten Moment hielt ich es für einen Traum, dann dachte ich, Michael läge weinend neben mir. Ich machte Licht und starrte auf die leere Betthälfte. Das Schluchzen ging in ein lautes Wimmern über, ich stand auf und schaute nach, ob jemand vor meiner Tür lag oder ob es aus der Nachbarwohnung kam. Im Flur war alles ruhig, in mir wurde es immer lauter.
    Es war ein untröstliches Weinen, das nicht enden wollte und mich wahnsinnig machen würde, wenn ich es nicht irgendwie zum Verstummen brachte.
    – Hallo? Wo bist du?
    Das Weinen wurde nur noch heftiger. Es klang nicht trotzig, auch nicht wütend, eher nach einem Schmerz, für den es keine Worte gab.
    – Bist du es, die weint? Warum antwortest du nicht?
    Nichts als dieses unerträgliche Schluchzen. Es tat mir nicht mehr in den Ohren weh, sondern im Herzen. Es berührte etwas in mir, ich spürte eine Pein, eine tief vergrabene Trauer, und es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde ich ebenfalls in Tränen ausbrechen.
    Ich machte überall Licht und drehte das Radio auf, bis die Musik das Wehklagen in mir übertönte. Kurz darauf klingelte es. Vor der Tür standen zwei Nachbarn und wollten wissen, ob ich völlig verrückt geworden sei.
    Es war der Augenblick, in dem ich begriff, dass ich Hilfe brauchte.

7
    I ch war ein Nervenbündel, als ich am Montagmorgen um kurz vor elf Uhr die Praxis von Dr. Erikson betrat. Am Wochenende war ich nicht in der Lage gewesen, mich auf irgendetwas zu konzentrieren, jeder Versuch zu arbeiten endete mit einem Kommentar oder Fragen der Stimme. Ich hatte kaum geschlafen und am Morgen Mulligan gestanden, dass zu meinen Kreislaufproblemen noch schlimme Schwindelanfälle und Magenschmerzen hinzugekommen wären und ich auf dem Weg zu einem Internisten sei. Es war mir peinlich zu lügen, aber die Wahrheit war keine Alternative.
    Er reagierte kühl. Mulligan war stolz darauf, in achtzehn Jahren nicht einen Tag krank gewesen zu sein. Das »Gute Besserung« verschluckte er fast.
    Dr. Erikson war Psychiater; eine Freundin Amys, deren jüngerer Bruder unter einer Psychose litt, hatte ihn empfohlen und durch Zufall den kurzfristigen Termin für mich bekommen.
    Er öffnete persönlich die Tür. Ein groß gewachsener, durchtrainierter Mann, vermutlich fünf, sechs Jahre älter als ich. Sein fester Händedruck, die ruhige Art, in der er mich anschaute, nahmen mir etwas von meiner Nervosität. Er führte mich in ein kleines Zimmer mit weißen, kahlen Wänden, in dem zwei Freischwinger standen, und bat mich, Platz zu nehmen. Wir saßen uns so dicht gegenüber, dass sich unsere Beine fast berührten. Dann nahm er Block und Kugelschreiber zur Hand und fragte, was mich zu ihm führe.
    Bereits nach den ersten Sätzen begann ich mich unwohl zu fühlen, ohne dass

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