Herzenstimmen
kannst mir nicht sagen, was ich zu tun habe. Das entscheide ich.
Meine Hände begannen zu zittern.
Wovor hast du Angst?
– Wer sagt, dass ich Angst habe?
Warum zitterst du sonst?
– Weil ich friere.
Wovor hast du Angst?
– Ich. Habe. Keine. Angst.
Hast du. Mit Angst kenne ich mich aus.
Ich stutzte.
– Warum kennst du dich mit Angst aus?
Stille.
Weil Angst mein täglicher Begleiter war.
– Wann?
Wenn ich das wüsste. Alles ist verschwommen. Nur an die Angst erinnere ich mich.
– Wo war das?
Alles ist weit weg.
– Was ist weit weg? Wovor hattest du Angst?
Ich habe alles verloren.
– Was hast du verloren?
Alles. Mehr weiß ich nicht.
Sie verstummte. Ich wartete, ob sie sich wieder melden würde. Ich stand auf und lief aufgeregt in meiner Wohnung umher.
– Was hast du verloren? Wo kommst du her? Sag doch etwas.
Es blieb ruhig in mir.
– Warum antwortest du mir nicht?
Was war nur in mich gefahren? Wer sprach da zu mir? War es möglich, dass sich meine Persönlichkeit von einem Tag zum anderen gespalten hatte? War das die Definition von Schizophrenie?
Ich öffnete meinen Laptop und googelte »Schizophrenie«. Wikipedia definierte sie als eine »schwere psychische Erkrankung, gekennzeichnet durch Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und der Affektivität«. Sie begann oft plötzlich, ohne dass es vorher nach außen auffällige Merkmale gegeben hätte. »Typisch für die inhaltlichen Denkstörungen ist Wahnbildung.« Ich hielt inne und überlegte kurz, ob ich den Computer nicht besser zuklappen sollte. Wahnbildung. Was sollte das heißen? Beunruhigt las ich weiter: »Häufig treten akustische Halluzinationen auf: Etwa 84 Prozent der an einer schizophrenen Psychose Erkrankten nehmen Gedanken wahr, deren Ursprung von den Betroffenen außerhalb verortet wird (Stimmen hören). Ein solches Erlebnis kann für die Betroffenen allein und inmitten von Sätzen, die umstehende Menschen sagen, auftreten. Befehle sind dabei eher selten. Behandlung: Bis heute sind schizophrene Störungen nicht im eigentlichen Sinne ›heilbar‹. In einer akuten Phase steht häufig die medikamentöse Behandlung im Vordergrund.«
Mit jedem Satz ging es mir schlechter. Ich litt nicht unter einer Psychose. Halluzinationen hatte ich auch nicht. Diese Stimme gab es. Ich bildete sie mir nicht ein.
Bei Amazon suchte ich nach Büchern, die sich mit inneren Stimmen beschäftigten. »Schizophrenie heilen«, »Halluzinationen heilen«, »Höre die Stimme des Lords« waren die beliebtesten Titel. Nichts, was ich lesen wollte.
Unter dem Stichwort »Stimmen hören« gab es im Internet über eine Million Fundstellen. Bei der ersten handelte es sich um eine Radiosendung. Darunter bot ein Netzwerk »Informationen, Unterstützung und Verständnis für Menschen, die Stimmen hören« an. »WrongDiagnosis.com« versprach eine Liste mit sieben Krankheiten, die das Phänomen verursachen können, und entsprechende Behandlungsmethoden. Ich öffne te die Seite.
»Ursachen: Schizophrenie. Psychosen. Psychotische Depression. Halluzinationen.«
Unter »Behandlung« stand die Empfehlung, dringend einen Arzt aufzusuchen, gefolgt von vier angeblich hilfreichen Videos. In einem sollte ich lernen, dem Arzt meines Kindes die richtigen Fragen zu stellen. Im anderen ging es um »Emotio nales Essen: Wie Sie verhindern, dass Ihre Gefühle Ihre Essgewohnheiten kontrollieren«. Es folgte eines über »Stressfreie Familienausflüge im Auto« und eines über den Zusammen hang zwischen Nikotinentzug und Gewichtszunahme. Menschen, die Stimmen hörten, schienen demnach unter kranken oder schreienden Kindern zu leiden und Probleme mit ihrem Gewicht zu haben. Beides traf auf mich nicht zu. Am Ende der Seite entdeckte ich ein Forum mit Erlebnisberichten Betroffener. Neugierig öffnete ich den ersten.
»Deepwater« schrieb: »Ich höre seit zwei Jahren Stimmen. Zunächst nur gelegentlich, aber seit einem Jahr nehmen sie zu. Sie werden lauter und drängender und mischen sich immer mehr in mein Leben ein. Sie sagen, ich sei klein und hässlich und ein Versager. Vergangene Woche befahlen sie mir, aus dem Haus zu gehen, mich auf den Rasen zu legen, mit den Armen zu rudern und dabei laut zu schreien, bis die Nachbarn kommen. Ich nehme starke Psychopharmaka dagegen, aber die helfen nicht. Mein Psychiater sagt, ich muss Geduld haben. Aber ich kann nicht mehr. Außerdem glaube ich, dass es unter Psychopharmaka schwieriger ist, mit höheren Mächten in Kontakt zu
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