Herzenstimmen
hier schlafen.«
»Ich weiß, danke. Aber ich habe am Wochenende so viel zu tun und will morgen nicht zu spät anfangen.«
Sie lächelte und nahm mich in den Arm. Es war schön, ihren Körper zu spüren. Am liebsten wäre ich geblieben.
Ich war noch keinen Häuserblock auf der Rivington Street gegangen, da hörte ich sie wieder.
Wer bist du?
5
E s vergingen zwei Wochen, bis sie es ihm sagte.
Zwei einsame, tieftraurige, elend lange Wochen, in denen die Lüge ihre mächtigen Flügel ausbreitete und sie wachsen ließ, bis sie den Himmel verdunkelten.
Zwei Termin-gefüllte-Mulligan-beladene-Besprechungen-von-morgens-bis-abends-ich-komme-zu-nichts-Wochen.
Zwei wortreiche Wochen ohne Worte.
Einen Tag hätte er ihr vielleicht verziehen. Möglicherweise auch zwei. Aber vierzehn?
Sie hatte es kommen sehen. Und doch nicht verhindern können.
So wurde aus einem Unfall ein Geheimnis. Und so wie das Gift eines Schlangenbisses seinen Weg durch den Körper findet, bis es das Herz erreicht und es zum Schweigen bringt, so bahnte sich ihr Schweigen seinen Weg durch ihre Liebe, bis es das Herz erreichte und es zum Schweigen brachte.
Eine Lüge kann genügen. Eine Lüge, streichholzgroß.
Das Gegengift wäre die Wahrheit gewesen. Es war ihr nicht gegeben. Nicht in diesen zwei Wochen.
Sie hatte es kommen sehen.
Wann beginnt das Leben? Wann beginnt die Liebe? Wann hört sie auf?
Nicht lebensfähig. Noch lange nicht. Und trotzdem.
Sie hatte vergessen, wie zerbrechlich Vertrauen war. Wie kostbar. Wie viel Licht es braucht. Wie dunkel es wird, wenn die Lüge ihre Flügel ausbreitet.
Sie hatte vergessen, wovon es sich nährt. Wie viel Zuwendung es braucht.
Sie bat ihn um Verzeihung. Nicht um eine zweite Chance. Als hätte sie gewusst, dass es sie nicht geben würde.
So endete es. Nach vier Jahren.
Keine Liebe fürs Leben, aber eine Hoffnung darauf.
6
W ie dünn ist die Wand, die uns vom Wahnsinn trennt? Nie mand weiß, wie sie beschaffen ist. Niemand weiß, wie viel Druck sie erträgt. Bis sie nachgibt.
Wir leben alle am Rande.
Es ist nur ein Schritt. Ein kleiner. Den einen ist es bewusst, den anderen nicht.
Ich hatte lange geschlafen, mich bemüht, meine samstägliche Routine beizubehalten, ohne mich aus der Ruhe bringen zu lassen. Spät gefrühstückt, lange Zeitung gelesen, einige E-Mails an Freunde geschrieben, die Wäsche gemacht. Trotzdem wuchs meine Anspannung den Morgen über mit jeder Stunde. Ich traute der Stille in mir nicht mehr. Das Gefühl, als schaute mir bei allem, was ich tat, eine unsichtbare Macht über die Schulter. Die Stimme folgte mir, daran hatte ich keinen Zweifel mehr. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie sich wieder melden würde.
Vor mir lag der Entwurf unserer Klageschrift. Links und rechts stapelten sich Akten und Schriftwechsel, ein arbeitsreiches Wochenende wartete auf mich.
Warum hast du keine Kinder?
Ich erschrak jedes Mal aufs Neue. Aus der Nachbarwohnung klang gedämpfte Klaviermusik, der Fahrstuhl klingelte, Polizeisirenen tönten von der Second Avenue herauf, die Stimme wiederholte ihre Frage. Es klang, als stünde sie hinter mir und spräche mir direkt ins Ohr. Ich wollte mich wehren. Aber wie? Gegen wen?
Warum hatte ich keine Kinder? Eine Frage, die ich hasste. Warum muss sich eine Frau für ihr kinderloses Leben rechtfer tigen? Niemand käme auf die Idee, eine Mutter zu fragen, war um sie Kinder hat. Wie kam sie ausgerechnet auf diese Frage? Ich tat, als hätte ich nichts gehört.
Du solltest nicht allein leben. Das ist nicht gut.
Die Stimme bekam unvermittelt einen forscheren Ton. Es war das erste Mal, dass sie keine Frage stellte. Ich dachte an Amys Worte. Sprich mit ihr. Hör dir an, was sie zu sagen hat.
Du solltest …
– Wo kommst du her?, unterbrach ich sie barsch.
Stille. Ich wiederholte den Satz und wartete. Als schulde sie mir eine Antwort.
Das … das weiß ich nicht, erwiderte sie leise.
– Warum nicht?
Ich erinnere nichts.
– Was willst du von mir?
Nichts.
– Warum stellst du dann all die Fragen?
Weil ich wissen möchte, wer du bist.
– Warum?
Weil ich in dir lebe. Weil ich ein Teil von dir bin.
– Nein! Du gehörst nicht zu mir, widersprach ich.
Doch.
– Nein. Ich kenne mich.
Bist du sicher? Wer kennt sich schon?
– Du bist eine Fremde, beharrte ich.
Ich bin ein Teil von dir und werde es bleiben.
Mir wurde schlecht.
– Wenn du wirklich ein Teil von mir bist, dann will ich, dass du schweigst.
Ich gehöre zu dir, aber du
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