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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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gerufen. Nicht nach ihren Feinden. Nach Menschen, die sie liebten. Nach ihrer Mutter. Ihrem Vater. Ihrer Frau. Ihren Kindern. Niemand will einsam sein.
    Aber Ko Bo Bo hat mich noch etwas anderes gelehrt. Etwas noch viel Wichtigeres.«
    Thar Thar stockte, ich schaute ihn erwartungsvoll an.
    »Was es heißt zu lieben.«
    »Wart ihr …?« Ich wagte es nicht, den Satz zu beenden.
    »Ja, auch.« Er hielt inne, holte tief Luft. »Aber das meine ich nicht. Ko Bo Bo hat noch jemand anderen geliebt. Seinen Bruder. Ihren Bruder.«
    Ich wusste nicht, wovon er sprach.
    »War sein Bruder auch im Lager?«
    »Ihr Bruder.«
    »Warum ihr Bruder? Thar Thar, ich verstehe kein Wort. Du musst mir helfen.«
    »Ko Bo Bo gab es nicht. Das war eine Erfindung. Ko Bo Bo hieß Maw Maw und war ein Mädchen. Eine junge Frau.«
    Mir stockte der Atem. »Wieso …Woher weißt du … ich meine …« Ich bekam lange keinen ganzen Satz heraus. Was machte eine Frau in dem Lager? Wie war sie dort hingekommen? Warum hatte Maung Tun uns nichts davon erzählt?
    Thar Thar schwieg. Er starrte auf die Stupa, Tränen rannen ihm über die Wangen, doch sein Gesicht blieb unbewegt.
    »Ich hatte schon länger das Gefühl, dass er etwas vor mir verbarg«, flüsterte er, ohne mich anzuschauen. »Eines Tages haben wir zusammen Wäsche am Fluss gewaschen. Er rutschte aus und fiel ins Wasser. Ko Bo Bo war kein guter Schwimmer, ich bin hinterhergesprungen und habe ihn herausgezogen. Einige Sekunden standen wir uns klitschnass und wortlos gegenüber. Das Hemd, der Longy klebten an seinem, an ihrem Körper … Sie hätte auch nackt vor mir stehen können …«
    Wir saßen schweigend nebeneinander, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Thar Thar blickte noch immer auf das bröckelnde Mauerwerk vor uns.
    »Ich wusste nicht, dass das Militär auch junge Frauen als Träger missbraucht.«
    »Tut es auch nicht.«
    »Wie ist dann Ko Bo Bo …?«, fragte ich leise.
    »Maw Maw.«
    »… Maw Maw ins Lager gekommen?«
    »Sie hat sich verkleidet und als Junge ausgegeben.«
    Ich griff nach seiner Hand.
    »Wer hat sie dazu gezwungen?«
    »Niemand.«
    »Sie war freiwillig da?«
    »Ja.«
    Je mehr ich erfuhr, desto weniger verstand ich den Sinn, der in dem lag, was er mir erzählte. Was konnte es für Gründe geben, dass ein Mensch sich ohne Zwang in diese Hölle begab? Warum war sie bereit gewesen, einen so furchtbaren Preis zu zahlen? Wofür?
    »Thar Thar?«
    Er schaute mich noch immer nicht an.
    »Weshalb hat sie das getan?«
    Er ignorierte meine Frage.
    »Warum hat sie sich als Junge verkleidet?«, fragte ich noch einmal.
    Thar Thar hob den Kopf und schaute mir direkt in die Augen: »Weil sie liebte. Und weil sie verstanden hatte, was das bedeutet.«
    »Wen hat sie so geliebt? Für wen hat sie das getan?«
    »Für ihren Bruder.«
    »Ihren Bruder?«, wiederholte ich ungläubig. Wie konnte eine junge Frau ausgerechnet für ihren Bruder ein solches Opfer bringen?
    »Sie hatte einen Zwillingsbruder. Er war zehn Minuten jünger als seine große Schwester. Die beiden müssen unzertrennlich gewesen sein. Schon von Geburt an. Ihre Mutter erzählte ihnen, dass sie als Babys schrien, sobald der andere nicht in der Nähe war, und erst aufhörten, wenn sie wieder nebeneinander lagen. Bekam einer von ihnen Fieber, dauerte es nicht lange, bis auch der andere erkrankte. Ihren ersten Zahn bekamen sie am selben Tag, den zweiten auch. Maw Maw konnte etwas früher laufen, ihr Bruder machte seine ersten Schritte an ihrer Hand, bis sie beide umfielen. Als Kinder ließen sie sich niemals aus den Augen, manchmal kam es ihren Eltern vor, als hätte sich eine Seele auf zwei kleine Körper verteilt. Sie lebten in ihrer eigenen Welt, in der sie sich selbst genügten. Tat sich einer weh, suchte er nicht Trost bei Vater oder Mutter, sondern beim anderen. Niemand im Dorf hatte je so etwas erlebt. Alle nannten sie Klettchen, weil sie so aneinander hingen.
    Als die Soldaten kamen, von Hütte zu Hütte gingen und alle jungen Männer mitnahmen, arbeiteten Maw Maws Eltern und ihr Bruder auf einem Feld, das weit entfernt lag. Vor Einbruch der Dunkelheit würden sie nicht zurück sein. Maw Maw hörte die Stimmen der Soldaten schon von Weitem, und ihr wurde übel vor Entsetzen. Wie alle anderen wusste sie, was passieren würde, dass von denen, die geholt werden, keiner lebend zurückkehrt. Sie erzählte mir, wie sie geglaubt hatte, ihr Herz bliebe stehen aus Angst um ihren Bruder. Seine Sachen, die an der Wand

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