Herzenstimmen
hingen, brachten sie auf die Idee. Maw Maw zog sie hastig an und gab sich für ihn aus. Von dem Moment an, sagte sie, sei sie ganz ruhig gewesen. Von den Soldaten merkte keiner etwas. Sie ist für ihn in den Tod gegangen. Kannst du das verstehen?«
»Nein«, entfuhr es mir leise. Hatte ich schon einmal einen Menschen so geliebt, dass ich mich für ihn hätte quälen lassen? Dass ich mein Leben für ihn geopfert hätte?
»Ich habe es auch nicht verstanden. Zunächst nicht. Aber was wusste ich von der Liebe? Nichts, Julia, gar nichts.
Maw Maw hat mich gelehrt, dass ein Mensch zu allem fähig ist, nicht nur zu jeder Niedertracht. Jedes Opfer, das sie brachte, war ein kleiner Triumph über das Böse, verstehst du, was ich meine? Für mich war das so kostbar, wie es ein Becher Wasser für einen Verdurstenden ist. Hat euch Maung Tun gesagt, wie es im Lager zuging?«
»Ja.«
»Es war furchtbar. Manche von uns sind vor Angst wahnsinnig geworden. Sie rissen sich die Haare aus, hörten nicht auf zu schreien oder schlugen ihre Köpfe gegen Holzbalken, bis Soldaten kamen und sie erschossen. Gnadenschuss nannten sie das. Als wären wir tollwütige Hunde. Hat er euch das auch erzählt?«
»Nein.«
»Maw Maw hat uns mit jedem Tritt, mit jedem Schlag, den sie aushielt, ohne zu zerbrechen, daran erinnert, dass es eine Kraft gibt, die Soldaten nicht besiegen können.
Wenn sie hungerte, weil sie uns mal wieder keinen Reis gaben, tat sie es für ihren Bruder. Wenn sie uns quälten und Maw Maw auf einem Bein in der Sonne stehen musste, bis sie umfiel, erlitt sie das für ihn. Und für uns.«
Er verstummte für einen Moment. »Sie war der tapferste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ihre Opfer haben mir meinen Lebensmut gegeben. Damit hat sie mein Herz gestimmt, Tag für Tag ein bisschen mehr, ohne dass ich es bemerkte. Irgendwann war all die Bitterkeit in mir verflogen. Mein Zorn und mein Lebensgroll, meine Wut und mein Hass versiegten. Wie ein Bach, der keine Quelle mehr hat, die ihn speist.«
Er drehte sich langsam zu mir und zog mich sanft zu sich herüber. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn und dem rasierten Kopf. Ich merkte erst jetzt, dass er zitterte, und nahm ihn in den Arm. Wir saßen lange schweigend nebeneinander und hielten einander fest, als suchten wir Schutz.
Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als er aufstand, mir das Haar aus dem Gesicht strich und mich zu küssen begann. Auf die Stirn, die Augen, die Lippen. Er hob mich hoch, ich schlang meine Beine um seine Hüfte, und er trug mich hinter die Stupa.
Und noch einmal spürte ich ihn so intensiv wie keinen Mann vor ihm.
Hörte seinen rhythmischen Atem, verlor mich in seinem fremden, aufregenden Geruch.
Zwischen Blumen und Früchten, die schweigend ihre Geschichten erzählten.
Hinter einer Pagode, die den Gesetzen der Schwerkraft nicht gehorchen wollte.
Zwischen Tempeln und Altären, in denen die Hoffnung lebte.
Als gäbe es etwas, das uns und unser Glück beschützen könn te. Und seien es Geister. Oder die Sterne.
10
A m nächsten Morgen weckte mich Moe Moe wieder. Einen kurzen wunderbaren Augenblick lang glaubte ich, noch in Thar Thars Armen zu liegen. Seine warme Hand auf meinem Bauch.
Moe Moe kniete sich neben mich, und ich sah sofort, dass etwas geschehen war. Ihr Lächeln war nicht das eines heiteren Menschen. Sie stellte den Tee auf den Boden und schlug die Augen nieder, als sich unsere Blicke trafen. Auf der Tasse lag ein mehrfach zusammengefalteter Zettel.
»For you«, sagte sie und reichte ihn mir.
»A letter? For me? Are you sure?«
Sie reagierte weder auf mein Lächeln noch auf mein Englisch, nickte nur, erhob sich wieder und ging mit schnellen Schritten davon. Warum hatte sie es so eilig? Hatte sie bemerkt, dass Thar Thar und ich uns in der Nacht wieder davongeschlichen hatten? Welches Glück ich im Schuppen gefunden hatte?
Mit klopfendem Herzen entfaltete ich das Papier. In der Mitte lagen ein paar getrocknete Jasminblüten.
Liebe Julia,
noch nie sind mir Zeilen so schwergefallen wie diese. Noch nie habe ich mit zitternden Händen einen Stift gehalten. Noch nie haben mir Worte solche Schmerzen zugefügt wie die, die ich nun zu Papier bringen muss.
Mich beschlich eine Ahnung, was kommen könnte, und ich hoffte inständig, dass ich mich irrte. Ich ließ das Blatt sinken und starrte auf den Vorhang. Als könnte Thar Thar ihn jeden Moment beiseiteschieben und mir den Brief wieder aus der Hand nehmen. Der abgenutzte Stoff
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