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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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ihrer Schussverletzung erlegen, in seinen Armen gestorben? Wohin war er gegangen? Was hatte er mit ihr gemacht? Wo mochte sie begraben liegen? Ich fragte mich, was für ein Mensch sie gewesen war. Woher hatte sie ihren Mut, ihre Kraft genommen? Am Ende von Thar Thars Erzählung hatte ich verstanden, wie ihr Beispiel, ihre Liebe es vermocht hatte, sein Herz zu stimmen.
    Trotzdem blieben so viele Fragen. Ich hatte mich nicht getraut, Thar Thar eine davon zu stellen.
    In Gedanken war ich fortwährend bei ihm. Was zwischen ihm und mir geschehen war, konnte ich mir nicht erklären. Er hatte mich in einer Weise berührt wie kein Mann vor ihm. Zehn Tage hatten wir miteinander verbracht, zehn Tage und zwei Nächte, halbe Nächte, und was in diesen Stunden mit mir passiert war, stand in keinem Verhältnis zu der wenigen Zeit, die wir gehabt hatten.
    Seit meiner Kindheit hatte ich die Trennung von einem Menschen nicht mehr so körperlich gespürt. Ich hatte keinen Appetit und aß wenig. Schlief unruhig, erwachte mit Rückenschmerzen. Bekam schlecht Luft, litt unter einem unbestimmten Druck in der Brust. Saß stundenlang erschöpft in U Bas Sessel, während er ein Buch restaurierte. Immer wieder nahm ich Thar Thars Brief zur Hand.
    Noch nie sind mir Zeilen so schwergefallen wie diese … Noch nie haben mir Worte solche Schmerzen zugefügt wie die, die ich nun zu Papier bringen muss.
    Meine Wut, meine Enttäuschung waren mit jedem Lesen weniger geworden. Mit einigen Tagen Abstand konnte ich besser verstehen, warum er so plötzlich gefahren ist.
    Ich hatte nicht gewusst, dass es einen Ort gibt, an dem die Angst keine Macht besitzt.
    An dem wir so frei sind.
    Ich auch nicht, wollte ich ihm an dieser Stelle jedes Mal erwidern. Ich auch nicht.
    Die Idee, ihm zu antworten, hatte ich verworfen, wieder aufgegriffen, erneut verworfen. Was sollte ich ihm schreiben? Dass ich krank war vor Sehnsucht? Dass ich nach Hsipaw ziehen würde?
    Mein Bruder kümmerte sich rührend um mich. Er war überzeugt, ich wäre liebeskrank. Ich sei an jenem Virus erkrankt, den, so behauptete er, jeder in sich trüge und der bei mir nun besonders heftig ausgebrochen sei. Gegen ihn gäbe es keine wirksame Medizin. Körper und Seele würden sich selber kurieren oder eben nicht.
    Ablenkung würde seine Wirkung etwas lindern, aber immer nur für eine bestimmte Zeit. Deshalb wanderten wir in einige Bergdörfer in der Umgebung; fuhren zum Inle-See, wo wir schwimmende Gärten und Märkte besuchten und in einem Kloster springende Katzen bestaunten; sa ßen viel in unserem Teehaus, ohne dass es mir besser ging oder ich auf andere Gedanken gekommen wäre. Was immer wir unternahmen, ich trug die Erinnerungen an das Kloster in mir.
    Eines Nachmittags nahm U Ba mich mit auf einen langen Spaziergang. Wir liefen einmal quer durch Kalaw, stiegen einen Hügel hinauf, die Straße war notdürftig geteert, versandete bald und ging in einen holprigen Feldweg über. Ich glaubte mich zu erinnern. Zwischen Büschen und vertrockneten Gräsern entdeckte ich die ersten Gräber. Graubraune Betonplatten lagen im Staub, schmucklos und ohne Inschriften, überwuchert von Gestrüpp. Es gab keine frischen Blumen, keine einzige gepflegte Grabstätte.
    Hier waren an einem windstillen Tag die Leichname von Mi Mi und Tin Win verbrannt worden. Zwei Rauchsäulen, so hatte mir mein Bruder erzählt, waren senkrecht in den Himmel gestiegen und hatten sich plötzlich aufeinander zubewegt, bis sie miteinander verschmolzen.
    Nicht alles, was wahr ist, kann man erklären. Nicht alles, was man erklären kann, ist wahr.
    Ich fragte mich, warum er mich noch einmal auf diesen Friedhof geführt hatte. »Was möchtest du mir sagen?«, fragte ich. Es klang strenger, als ich es gemeint hatte.
    »Ich möchte dir gar nichts sagen«, wehrte er ab. »Ich bringe dich nur an den Ort zurück, an dem unser Vater …« Er brach ab und begann von Neuem. »Ich dachte einfach, dass du vielleicht noch einmal hierher möchtest, dass es dir …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… hilft.«
    Ich nickte. »Entschuldige, U Ba. Ich bin einfach so gereizt … ich weiß auch nicht, was mit mir los ist …«
    Er setzte sich auf die Erde, nahm meine Hand und zog mich herunter. Wir saßen lange schweigend nebeneinander, mein Blick verlor sich in der hügeligen Landschaft mit ihren Reisfeldern, Wäldern, Bambushainen und weißen Pagoden.
    »Sag mir, was soll ich machen?«
    »Wer bin ich, dir einen Rat zu geben?«
    »Du bist mein

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