Herzenstimmen
schaute mich traurig an, er bewegte sich nicht. Ich las weiter.
Auf Deiner Armbanduhr sehe ich, dass es kurz nach halb vier Uhr ist. Alle schlafen, auch Dein Bruder schnarcht leise und gleichmäßig und ohne zu husten!
Mein Herz hingegen schlägt zu heftig, mein ganzer Körper zittert, an Schlaf ist gar nicht zu denken.
So habe ich mich zu Dir gesetzt und eine Kerze angezündet. Du liegst neben mir, und ich kann meine Augen kaum von Dir wenden. Noch immer fühle ich Dich auf mir. Deine Hände, Deine Lippen. Was hast Du nur mit mir gemacht? Wohin hast Du mich entführt? In eine Welt, von der ich nie gedacht hätte, dass es sie in mir gibt. In der ich für immer hätte verweilen wollen, auch wenn ich ahne, dass es immer nur für wenige, kostbare Sekunden möglich ist. Ich hatte nicht gewusst, dass diese Kraft in mir steckt. Ich hatte nicht gewusst, dass es einen Ort gibt, an dem die Angst keine Macht besitzt.
An dem wir so frei sind.
Wie unglaublich schön Du bist. Dein Bruder hat recht, wenn er das sagt. Auch der Schlaf nimmt Dir nichts von Deiner Anmut. Du ahnst nicht, wie viel Kraft es kostet, mich jetzt nicht wieder zu Dir zu legen. Nicht wieder Deinen Atem auf meiner Haut zu spüren. Dich nicht zu küssen. Dich nicht zu streicheln.
Neben Dir zu sitzen, ohne Dich zu berühren, verursacht mir körperliche Schmerzen, so groß ist die Sehnsucht schon wieder. Das Verlangen, mit Dir an diesen Ort zurückzukehren. Sofort. Doch wenn ich dem weiter nachgebe, werde ich bald nicht mehr von Deiner Seite weichen können. Deshalb habe ich beschlossen zu verreisen.
Wenn Du diesen Brief in den Händen hältst, bin ich bereits unterwegs. Die Sonne wird noch ruhen, wenn ich mich auf den Weg mache.
Bitte verzeih mir.
Die vergangene Woche hat mir großes Glück beschert. Ein Glück, das mir so viel bedeutet, dass ich es mit Worten nicht beschreiben kann. Nie hätte ich gedacht, dass es mir noch einmal begegnet. Ich bin umso dankbarer, weil ich weiß, wie zerbrechlich es ist. Ein flüchtiger Besucher in unseren Herzen. Kein verlässlicher Freund. Niemand, auf den wir zählen können. Kein Glück. Nirgends.
Ich muss fort, weil ich fürchte, dass mein Herz immer weiter aus dem Rhythmus gerät, wenn wir noch mehr Zeit miteinander verbringen.
Weil ich nicht weiß, wer es wieder stimmen soll, wenn Du abreist und zurückkehrst in Deine Welt.
Wäre ich ein anderer, könnte ich diese Störung vielleicht ertragen, doch ich habe zu lange mit einem verstimmten Herzen gelebt. Ich möchte es nie wieder. Ich würde es keinen weiteren Tag aushalten. Nicht einen.
Wer einmal verlassen wurde, der trägt diesen Verlust in sich.
Wer nicht geliebt wurde, der trägt eine unstillbare Sehnsucht nach Liebe in sich.
Und wer einmal geliebt wurde und diese Liebe verlor, der trägt nicht nur diese Liebe in sich, sondern auch die Angst, sie wieder zu verlieren.
Ich trage von allem etwas in mir.
Zusammen wirkt es wie ein Gift, das sich langsam im Körper ausbreitet. Es dringt bis in die letzten Winkel der Seele vor. Es bemächtigt sich aller Sinne. Es tötet nicht, aber es lähmt.
Es tötet nicht, aber es macht misstrauisch.
Es fördert den Argwohn. Die Eifersucht. Die Missgunst.
Wie viel Verlust erträgt ein Mensch?
Wie viel Schmerz?
Wie viel Einsamkeit?
Du bist nicht allein gekommen. Du hattest Deinen Bruder dabei und einen kleinen Jungen. Du hast versucht, ihn zu verstecken, doch ich habe ihn sofort erkannt.
Einen kleinen Jungen, den es, wäre es nach dem Willen seiner Mutter gegangen, gar nicht hätte geben sollen.
Eine Kinderseele weiß alles.
Der so einsam war, wie nie ein Mensch einsam sein sollte. Der Blut von Hühnern, die viel mehr als Hühner waren, an seinen Händen hatte, und es sollten Jahre vergehen, bis er sich nicht mehr vor ihnen ekelte. Vor seinen eigenen Händen!
Eine Kinderseele vergisst nichts.
Aber sie wächst, und sie lernt. Sie lernt zu misstrauen. Sie lernt zu hassen. Sie lernt, sich zu wehren. Oder zu lieben und zu verzeihen.
Du hattest einen kleinen Jungen dabei, von dem ich dachte, ich würde ihm nie wieder begegnen.
Wenn Du fährst, wird er bei mir bleiben, und ich werde mich um ihn kümmern. Ich werde ihn trösten, wenn er traurig ist. Ich werde ihn beschützen, wenn er Angst hat. Ich werde für ihn da sein, wenn er sich einsam fühlt.
Du hast mir erzählt, dass mein Vater von einem Leben ohne Anhaftungen geträumt hat. Ihm ist es nicht gelungen, und mir wird es auch nicht gelingen. In dem Sinne bin ich
Weitere Kostenlose Bücher