Herzflattern im Duett
Zwicken in Dakas Bauch trat jetzt immer seltener auf. Dafür hatte sie das Gefühl, eine glühende Kohle verschluckt zu haben. Ihr Körper wurde von Hitzewellen überflutet. Doch sie schwitzte nicht.
Silvania war nicht mehr schwindlig. Dafür fröstelte sie. Sie hatte das Gefühl, dass sich in ihrem Inneren eine dicke Eisschicht ausbreitete. Doch sie hatte keine Gänsehaut.
Aber Silvania sagte ihren Eltern nichts von der Eisschicht. Und Daka sagte ihnen nichts von den Hitzewellen. Denn den Schwestern war klar, wohin das führen würde – zum Arzt. Dorthin wollten sie auf keinen Fall. Daka und Silvania kannten bis jetzt nur transsilvanische Ärzte. Sie waren bekannt dafür, dass sie nicht zimperlich mit Patienten umgingen. (Die von den transsilvanischen Ärzten ›Porci-Proba‹ genannt wurden, was so viel hieß wie ›Versuchskaninchen‹). In Bistrien gingen Gerüchte um, Dr. Liviu Chivu – der stadtbekannte Allgemeinarzt – habe einem Porci-Proba bei einer Operation zum Spaß einen Wecker eingepflanzt, der jeden Mittag um 12 Uhr losrasselte, woraufhin der Porci-Proba aus dem Tiefschlaf hochschreckte und in einen Lachanfall ausbrach, bei dem er fast keine Luft mehr bekam. Einer weiblichen Porci-Proba hatte Dr. Chivu während der Narkose die Augenbrauen abrasiert und deren Bruder aus Versehen das Ohr verkehrt herum angenäht, sodass das Ohrläppchen nach oben zeigte, was sich beim Fliegen aerodynamisch ungünstig auswirkte.
Kurzum: Daka und Silvania wollten keine Porci-Proba sein. Die Zwillinge wussten nicht, dass Ärzte in Deutschland anders waren. Nicht alle, aber die meisten. Sie verschrieben Tabletten, Salben und wenn man Glück oder eine gute Krankenkasse hatte, sogar Massagen und Kuraufenthalte. Ärzte in Deutschland waren für die Genesung und das Wohl der Patienten verantwortlich. Manche Ärzte in Deutschland waren sogar ganz normale Menschen.
Herr Tepes nahm einen Schluck von seiner Blutschorle, stellte das Glas lautstark auf den Tisch und strich sich über den dichten, langen Schnauzbart, hinter dem er die spitzen Eckzähne vor den deutschen Mitbürgern verbarg. »Ich weiß, was meinen Töchtern fehlt.«
Daka, Silvania und Elvira Tepes sahen Herrn Tepes erwartungsvoll an.
Herr Tepes zog eine Blutampulle aus der Westentasche, spritzte den Inhalt bis auf den letzten Tropfen in seine Schorle und zeigte mit der leeren Ampulle auf die Zwillinge. »Euch fehlt ein ordentlicher, langer, nächtlicher Ausflug!« Herr Tepes nickte sich ob dieser Erkenntnis zufrieden zu und nahm einen Schluck von der Schorle. Er setzte das Glas ab und fuhr fort: »Ihr braucht frische Flugluft, und zwar in ordentlicher Flughöhe. Ihr werdet sehen: Nach ein paar Sturzflügen und Loopings geht es euch wieder bestens.«
Daka biss mit einem lauten Knack von ihrer Mohrrübe ab und nickte. »Ein Ausflug. Boibine!«
Auch Elvira Tepes nickte. Gut möglich, dass den Halbvampiren die körperliche Betätigung in der frischen Nachtluft fehlte. Ihr Körper hatte sich noch nicht an die neuen Lebensumstände in Deutschland gewöhnt. Den ganzen Tag auf dem Erdboden bleiben, nachts schlafen und kaum Frischblutzufuhr – kein Wunder, dass die Zwillinge so durcheinander wirkten. Dieser Ausflug war eine hervorragende Idee. Am liebsten würde Elvira Tepes mitfliegen, sich genauso elegant wie ihr Mann in den dunklen Nachthimmel erheben.
Silvania runzelte die Stirn. Sie bezweifelte, dass es ihr nach Loopings und Sturzflügen besser ging. Während Daka die absolute Überfliegerin war, war Silvania die lahme Flugente der Familie. Nur Elvira Tepes flog schlechter. Und die flog gar nicht.
Trotzdem stand Silvania ein paar Stunden später mit Daka und Mihai Tepes auf dem Dach des Reihenhauses Nummer 23. Die Sonne war längst untergegangen. Herr Tepes musterte seine Töchter. Daka hatte bereits die Arme ausgebreitet und war zum Abflug bereit. Silvania hatte wie immer ihre lederne Fliegermütze auf. Die rotbraunen Haare quollen darunter hervor. Silvania blickte nervös vom Dach herunter und sah aus, als würde sie lieber mit ihrer Mutter im Wohnzimmer ›Vampir, beiß mich nicht!‹ spielen.
»Seid ihr bereit?«, fragte Herr Tepes.
Daka nickte ungeduldig. Sie war seit zwei Stunden bereit.
Silvania zuckte mit den Schultern. So richtig bereit war sie eigentlich nie.
»Also dann.« Herr Tepes breitete die Arme aus, senkte den Kopf und rief: »Onu, zoi, trosch!« Dann erhob er sich geschmeidig in den nachtblauen Himmel. Seine Töchter folgten ihm.
Mihai
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