Herzflattern im Duett
ihre Brust und zog die Beine zu sich heran. Sie war erschöpft und müde. Doch sie konnte nicht schlafen. Immer wieder musste sie an den Ausflug denken. Und das komische Gefühl, das sie beim Fliegen gehabt hatte. Ein Gedanke schlich sich in ihren Kopf. Am liebsten hätte sie ihn sofort wieder verbannt. Es war unglaublich, aber sie musste es sich eingestehen: Sie hatte Flugangst. Sie! Dakaria Tepes! Sie, die im Vampirgarten als Erste alleine vom Schlammkasten zum Kuschelnest im großen Ahornbaum fliegen konnte. Sie, die in der Schule sowohl im Weitfliegen, im Schlängelflug als auch im Querfeldeinflug immer die Beste war. Sie, die erst vor wenigen Wochen einem Flugzeug bis in die Schweiz hinterhergeflogen war. Sie sollte Flugangst haben?
Daka schüttelte unwillkürlich den Kopf. Der Schiffsschaukelsarg quietschte. Sie legte sich auf den Rücken und starrte auf das Metallseil, das sie zum Abhängen quer durch das Zimmer gespannt hatte. Vielleicht hatte ihr Papa recht. Vielleicht war es nur ein Formtief. Vielleicht hatte es mit dem Ziehen im Bauch und den Hitzewellen zu tun. Die seltsamen Schmerzen waren seit dem Ausflug immerhin verschwunden.
Auch Silvania schien es wieder besser zu gehen. Sie strotzte geradezu vor Energie und wollte gar nicht ins Bett gehen. Sie flopste sich vom Fensterbrett zum Schreibtisch und wieder zurück. Schließlich flog sie zur Zimmerdecke, hing sich kopfüber an das Metallseil und wickelte sich eine Haarsträhne um die Nasenspitze. Silvania schielte an der Haarsträhne vorbei nach draußen in die Nacht. Ihre Augen funkelten. Sie war hellwach. Sie hatte Lust, in die Innenstadt zu fliegen. Oder bis nach Transsilvanien. Oder bis zum Mond. Das war seltsam. Normalerweise hatte Silvania nur Lust zum Essen, Lesen und Verliebtsein.
Daka und Silvania Tepes ahnten nicht, dass das erst der Anfang sein sollte. Der Anfang einer Reihe seltsamer Begebenheiten. So seltsam, dass sie unheimlich waren. So unheimlich, dass sie ihnen schlaflose Nächte bereiteten. Nächte, in denen beängstigende Kräfte freigesetzt wurden. Kräfte, die Turbulenzen und gefährliche Situationen verursachten. Situationen, in denen eine tödliche Begierde entfacht wurde.
Doch von all dem wussten die Zwillinge noch überhaupt nichts. Sie dachten, alles wäre normal. Wenn die Sonne schien, war es hell. Wenn man ins Wasser fiel, war man nass. Sie dachten, sie wären zwei ganz normale Halbvampire, die am nächsten Morgen zur Schule gingen ...
Selbstporträt
mit Fliege
D as vordere Fenster im Kunstraum der Gotthold-Ephraim-Lessing-Schule war weit geöffnet. Frau Meusinger lehnte mit übereinandergeschlagenen Füßen am Fensterbrett und ließ den Blick durch die Klasse schweifen. Sie hatte eine Hand in die Hosentasche gesteckt und spielte mit einem Haargummi. Das war eine alte Angewohnheit. Früher hatte Frau Meusinger lange schwarze Haare gehabt. Jetzt hatte sie kurze schwarz-graue Haare. Christine Meusinger war seit 15 Jahren Kunstlehrerin. Sie mochte ihren Beruf. Früher, als sie so alt gewesen war wie die Schüler, wollte sie Galeristin werden. Später, als sie studierte, ging sie zu vielen Galerieeröffnungen, lernte Künstler, Galeristen und Kunstverständige kennen. Danach wusste sie, dass sie nicht mehr Galeristin werden wollte. Sie wollte etwas mit Kunst zu tun haben. Aber nicht zu viel mit Künstlern. Sie wollte den Menschen Kunst näherbringen, aber nicht in einem Museum oder einer Galerie. Christine Meusinger beschloss, Kunstlehrerin zu werden. Bis heute hatte sie es nicht bereut.
Frau Meusinger stieß sich vom Fensterbrett ab und begann ihre Runde durch die Klasse. Sie nahmen gerade das Thema Selbstporträt durch. Frau Meusinger hatte den Schülern Selbstporträts aus allen Jahrhunderten und allen Stilrichtungen gezeigt. Sie hatte mit den Schülern über Selbstbilder geredet, die jeder Mensch von sich hat. Sie hatte erklärt, dass Selbstporträts nicht nur die äußeren körperlichen Merkmale darstellen können, sondern auch das innere Selbst, vielleicht einen inneren Konflikt oder ein Gefühl. Jetzt sollten die Schüler ihre eigenen Selbstporträts anfertigen. Christine Meusinger war gespannt, was sie zu sehen bekam.
In der ersten Reihe saß Ralf Siegelmann. Er war der Musterschüler der Klasse. Seine schmalen Schultern hingen nach unten und seine blonde Haartolle, die wie eine Butterflocke aussah, baumelte über dem Papier. Er zeichnete mit dünnen Bleistiftlinien sein Gesicht, während er einen kleinen Spiegel
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