Herzflattern im Duett
Tepes liebte Fliegen. (Sowohl die, die man als leichte, knackige Zwischenmahlzeit einwerfen konnte, als auch die Fortbewegungsweise). Wenn er flog und dabei für Sekunden die Augen schloss (obwohl das gegen die transsilvanischen Flugverkehrsregeln verstieß), konnte er sich einreden, wieder in seiner Heimat zu sein. Transsilvanien! Er stellte sich vor, unter ihm lägen die dichten, wildreichen, transsilvanischen Wälder, die erhabenen, gigantischen Berge und die wilden, glasklaren Flüsse. Er stellte sich vor, er würde mit seinem Bruder Vlad um die Wette fliegen. Der Verlierer müsste die Hälfte von seinem Wildschwein abgeben und in der Gruftstätte eine Runde lauwarmes Frischblut ausgeben.
Bei dem Gedanken schnalzte Mihai Tepes mit der Zunge. Er öffnete ein Auge und drehte sich nach seinen Töchtern um. Silvania war dicht hinter ihm. Die Fliegermütze war ihr fast über die Augen gerutscht, so sehr hatte sie den Kopf beim Gasgeben gesenkt. Daka folgte mit etwas Abstand. Sie schwenkte nach links und nach rechts und stürzte alle paar Meter jäh in die Tiefe, als wäre sie in ein Luftloch gefallen. Taumelnd kämpfte sie sich wieder auf Flughöhe. Übte Daka für die Freestyle-Fly-Meisterschaften in Bistrien? Vielleicht eine Slapsticknummer. Es sah auf jeden Fall sehr überzeugend aus, fand Mihai Tepes.
Herr Tepes wollte gerade eine elegante Kurve fliegen, als etwas an ihm vorbeizischte. Sein Schnauzer, der zwei großen Lakritzschnecken ähnelte, wackelte. Mihai Tepes riss die Augen auf. Er konnte kaum glauben, was er sah. Das Etwas, was eben an ihm vorbeigesaust war, war seine Tochter. Nicht Daka. Silvania!
Mihai Tepes verfolgte den Flug seiner Tochter. Nur mit den Augen – anders wäre er vermutlich gar nicht hinterhergekommen. Silvania schoss in die Höhe wie ein Feuerwerkskörper. Eine Sekunde später stürzte sie in die Tiefe und flog ein spektakuläres Looping, bei dem Mihai Tepes vom Zusehen schwindlig wurde. Danach flog Silvania im wilden Zickzack über das Wäldchen. Abermals stürzte sie nach unten, direkt auf die Krone einer großen Kiefer zu. Silvanias Haare wehten wie ein Feuerschweif. Der Abstand zum Baum wurde immer kleiner. Doch Silvania drosselte die Geschwindigkeit nicht. Silvania und die Kiefernkrone waren nur noch zehn Zentimeter voneinander entfernt. Nur noch sechs. Nur noch zwei. Nur noch ...
»SCHLOTZ ZOPPO!«, schrie Mihai Tepes.
Silvania legte eine Vollbremsung hin. Wäre die Luft staubig gewesen, hätte es ganz schön gequalmt. Silvania stellte sich auf die Kiefernkrone und sah sich nach den anderen um. Sie wirkte weder erschöpft noch schwindelig noch lebensmüde.
Herr Tepes musterte Silvania einen Moment voller Stolz. Seine Tochter! So ein Flugtalent hatte er lange nicht gesehen, auch nicht unter den Vollblut-Vampirkindern in Bistrien. Und da hatte Silvania immer behauptet, sie wäre zu schwer zum Fliegen! Reinster Gumox, wie sich jetzt zeigte. Das hatte Mihai ihr ja schon immer gesagt und auf seine Schwippschwägerin Luda in Oklahoma verwiesen, die über 100 Kilo auf die Waage brachte und trotzdem in ihrer Jugend mit der Nationalmannschaft Gold im Synchronfliegen holte. Es kam eben nicht auf Größe oder Gewicht an, sondern auf die Technik. Und den Willen. Silvania schien in dieser Nacht beides entdeckt zu haben.
Mihai Tepes flog zu Silvania. Sie hing kopfüber an einem Kiefernast und ließ Arme und Ohren baumeln. »Zensatoi futzi!«, rief Herr Tepes. Er gab Silvania einen liebevollen Klaps auf die Fliegermütze und hing sich neben seine Tochter an den Ast. ›Zensatoi futzi‹ hieß so viel wie ›supermegawahnsinnsenormsensationellverblüffendausgezeichnet‹.
Silvania lächelte ihren Papa an. Sie konnte sehen, wie stolz er war. Der Lakritzschnauzer kringelte sich. Die dunklen Augen funkelten. Die langen Eckzähne blitzen auf.
»FUMPFS!«, schrie jemand ein paar Meter entfernt. Es war Daka. Sie flog taumelnd auf eine kleine Tanne zu. Dabei machte sie mal einen Schlenker nach links, mal nach rechts, mal nach unten, mal nach oben. Hätten es Mihai und Silvania Tepes nicht besser gewusst, hätten sie geglaubt, Daka hätte zum Abendessen keine rote Schorle, sondern eine Flasche Karpovka getrunken. Der traditionelle transsilvanische Schnaps mit der Afterraupe auf dem Flaschenboden schmeckte köstlich – das fanden zumindest alle Vampire – und seine Wirkung war einschlagend.
Schließlich erreichte Daka die kleine Tanne. Sie umklammerte die Tannenspitze mit beiden Armen und
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