Herzflattern im Duett
Fliege hatte sie schon seit ein paar Tagen nicht mehr gehabt.
»Hm«, brummte Silvania.
Daka streckte den Zeigefinger aus. »Zweitens, meine Wangen. Guck dir das an! Total rosarot. Wie Rotbäckchen. W-i-d-e-r-l-i-c-h!«
Silvania machte ein undefinierbares Geräusch.
»Drittens«, sagte Daka und streckte den Mittelfinger aus, »mein Spiegelbild. Ich, Dakaria Tepes, habe ein Spiegelbild! Kannst du das glauben?« Daka fuhr sich verzweifelt über das Gesicht. Ihr Spiegelbild war immer blass und verschwommen gewesen. Wie es sich für einen Halbvampir gehörte. Doch jetzt war ihr Spiegelbild deutlich und klar. So klar, dass Daka einen Pickel auf ihrer Stirn erkennen konnte. Sie hatte schon immer gewusst, dass ein verschwommenes Spiegelbild seine Vorteile hatte.
Silvania machte: »Hmpf.«
»Viertens ...« Daka zögerte. Ihr Mund war auf einmal ganz trocken. »Ich kann ... ich kann ... ich kann nicht mehr fliegen und flopsen«, sagte sie leise.
Silvania grunzte.
»Nein, wirklich. Ich habe es mehrmals versucht, glaub mir. Ich habe mich sogar von der Sprossenwand gestürzt. Es geht nicht mehr. Es ist, als ... als würde der Erdmagnetismus auf einmal stärker auf mich wirken. Oder meinst du, ich habe einfach nur zugenommen?«
»Hm...«, machte Silvania.
Daka wusste nicht, ob Silvania damit »Hm, kann schon sein" oder »Hm, glaub ich nicht" meinte. Sie entschied sich für Letzteres und fuhr fort: »Und fünftens: das Essen.«
Von der Dachrinne war ein Knurren zu hören.
»Ich kann mir überhaupt nicht erklären, woher das kommt, aber auf einmal habe ich totalen Appetit auf Knoblauch, Rettich und ... und B-ä-r-l-a-u-c-h. Bei dem Gedanken an rohes Fleisch dagegen wird mir ...« Daka spürte, wie etwas Feuchtes auf ihren Arm tropfte und herunterlief. Sie sah nach oben. Das Gesicht ihrer Schwester war nur wenige Zentimeter entfernt. Ihr Mund war leicht geöffnet. Von den langen, messerspitzen Eckzähnen tropfte Speichel. Silvanias Augen funkelten grün, eindringlich und gierig. Silvania sah nicht mehr aus wie ihre Schwester, fand Daka, sondern wie ein Raubtier. Ein Raubtier, das eiskalt tötete. Daka spürte einen Schauder, als prasselten Hagelkörner auf ihre bloße Haut.
»... wird mir schlecht«, sagte sie.
Im nächsten Moment schoss Silvania auf sie hinab. Sie riss den Mund auf und warf sich auf Daka. Der Liegestuhl klappte unter dem Gewicht der Schwestern zusammen. Daka schrie. In letzter Sekunde riss sie den Kopf zur Seite. Silvanias Zähne bohrten sich in den Liegestuhlbezug.
Dakas Herz schlug wie ein Presslufthammer. Sie wusste, dass ihre Schwester jede Sekunde wieder zubeißen würde. Sie konnte es kaum glauben und erst recht nicht verstehen. Daka hatte Angst. Angst, von ihrer eigenen Schwester ausgesaugt zu werden.
Silvania hatte ihre Eckzähne aus dem Liegestuhlbezug befreit. Sie riss den Mund auf und setzte zum zweiten Biss an.
Daka musste handeln. Rapedadi. Sie konnte ihre Schwester nicht wegstoßen. Dazu war Daka zu schwach und Silvania mit ihren beängstigenden Kräften zu stark. Sie konnte nicht mit ihrer Schwester reden. Silvania hatte sich in eine Bestie verwandelt. Daka konnte auch nicht um Hilfe schreien. Jede Hilfe käme zu spät.
Auf einmal setzte sich eine dicke Schmeißfliege auf Silvanias Wange. Daka holte weit aus und gab Silvania eine kräftige Ohrfeige. Die Schmeißfliege klebte an Dakas Handfläche. Schnell stopfte Daka ihrer Schwester die Fliege in den Mund.
Silvania sah ihre Schwester entsetzt an.
»Essen«, befahl Daka.
Silvania schluckte. Es knirschte.
Daka sah, wie sich die Gesichtszüge ihrer Schwester entspannten. Die Augen funkelten noch immer grün, aber nicht mehr gierig. Daka erkannte ihre Schwester wieder. Das Raubtier war verschwunden. Silvanias Körper nicht. Daka räkelte sich unter dem Gewicht ihrer Schwester.
»Oh, Verzeihung«, sagte Silvania und rollte von ihrer Schwester herunter auf die Terrasse. Sie wirkte geschockt, beschämt und betrübt.
Daka atmete aus. Nur ihr großer Zeh zitterte noch.
Dirk van Kombast steckte langsam das Lesezeichen mit der goldgelben Kordel zwischen die Seiten und schlug das Buch zu. Er hatte keine einzige Seite gelesen. Noch nicht einmal einen ganzen Satz. Er starrte hinüber zur Nachbarterrasse. Wie sollte er in Ruhe lesen, wenn sich die Mitglieder der Nachbarsfamilie gerade gegenseitig umbrachten? Allerdings, überlegte er und zog einen Mundwinkel hoch, hätte es einen Vorteil: Wären sie dabei erfolgreich, würden sie ihm einen
Weitere Kostenlose Bücher