Herzflimmern
gerichtet, die langsam eine Stufe nach der anderen hinunterging und dabei die Fotos betrachtete.
»Was? Das weißt du nicht mehr?« Ruths Stimme war zu laut. Sie fing sich in schrillem Echo in der Kuppel der Aula. »Das war doch der Test mit dem Augenspiegel. Das mußt du doch noch wissen, Mickey. Du warst so aufgeregt, daß deine Hände wie verrückt gezittert haben.«
Mickey schüttelte den Kopf. Sie erinnerte sich sehr gut an jene Zeit, aber sie zog es vor, sie nicht zurückzurufen. Das waren die Tage gewesen, als sie wegen ihres Feuermals noch Qualen gelitten hatte und jeder nähere Kontakt mit einem Patienten ihr Angst gemacht hatte. Und wie sarka {330} stisch Mandell gewesen war! Sie solle sich doch eine weniger ›hinderliche‹ Frisur zulegen, hatte er gesagt.
Ruths Stimme, als sie weitersprach, klang künstlich und laut, als sei sie bemüht, andere Geräusche zu übertönen. »Wir mußten uns alle um das Bett eines alten Mannes stellen, und er sagte, der Patient hätte ein Papillenödem. Jeder von uns mußte sein rechtes Auge mit dem Augenspiegel untersuchen. Ich weiß das noch so gut, weil ich die letzte war, und alle vor mir sagten, sie hätten das Ödem am Augapfel des Mannes ganz deutlich gesehen. Als ich an die Reihe kam, konnte ich absolut nichts entdecken. Ich schaute und schaute, aber ich sah nichts. Ich weiß noch, was für eine Angst ich hatte. Ich konnte es mir nicht leisten, beim Studentenpraktikum durchzufallen. Das hätte mich unheimlich zurückgeworfen. Deshalb behauptete ich, als ich mich wieder aufrichtete, genau wie alle anderen, daß ich das Ödem gesehen hätte. Daraufhin machte Mandell uns alle zur Minna, weil wir in ein Glasauge geschaut hatten.«
Mickey drehte den Kopf und starrte Ruth an. Die vertrauten Anzeichen der Erregung an Ruth wurden immer ausgeprägter – die kurzen, abgehackten Kopfdrehungen, die abgerissenen Worte, die flatternden Hände. Mickey war beunruhigt.
»Herrliche Zeiten«, sagte Ruth. »Einfach und unkompliziert. Das einzige, worum wir uns zu sorgen brauchten, waren unsere Noten. Und die Zeit verging so schnell. Ich weiß noch, wie ich bei Hoskins’ Einführungsrede dachte, Du lieber Gott,
vier
Jahre! Es erschien mir wie eine Ewigkeit. Jetzt kommt’s mir vor, als wären sie im Nu vergangen. Wo sind die Jahre geblieben?« Sie sah Mickey verwirrt an. »Wo sind sie geblieben?«
»Huhu!« rief Sondra, die inzwischen unten auf der dritten Stufe angelangt war. »Hier sind wir.«
Sie drehte abrupt den Körper, um zu den Freundinnen hinaufzuschauen und schwang dabei gleichzeitig den geschienten Arm zu der Fotografie an der Wand. Im selben Moment verlor sie das Gleichgewicht und stürzte rückwärts die Stufen hinunter.
Mickey rannte sofort los. Ruth folgte ihr. Als sie Sonda erreichten, hatte die sich schon auf die Knie hochgerappelt und schimpfte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf ihre eigene Dummheit.
Mickey und Ruth halfen ihr auf einen Sitz am Ende der Reihe.
»Manchmal vergeß’ ich es einfach«, sagte Sondra. »Ich vergesse, daß meine Arme geschient sind, und versuche, sie ganz normal zu gebrauchen. Ich glaube, ich bin nicht mehr die Treppe runtergeflogen seit ich in der Grundschule war.«
Während Mickey vor Sondra niederkniete, um ihre Arme zu untersu {331} chen, trat Ruth einen Schritt zurück und starrte mit undurchschaubarem Blick auf die Freundinnen hinunter.
»Wo tut’s weh?« fragte Mickey.
»Aua! Hier. Die Schiene bohrt sich genau in mein Fleisch.«
Mickey versuchte, den Arm zu bewegen, und Sondra schrie auf.
»Du mußt dich am Stuhl angeschlagen haben, als du gestürzt bist. Die Schiene ist ganz verbogen.«
Wieder schrie Sondra auf, fing aber zu Ruths Erstaunen gleich darauf zu lachen an.
»So was Dummes kann nur mir passieren. Na, wenigstens ist es der letzte Tag. Tu sie doch gleich runter, Mickey. Es tut wirklich ekelhaft weh.«
»Okay. Heute nachmittag hätten wir sie ja sowieso abgenommen.«
Während Mickey mit Vorsicht und Behutsamkeit daran ging, Sondras Arm aus seinem Metallgefängnis zu befreien, und dabei die Stelle inspizierte, wo die Schiene sich ins Fleisch gebohrt hatte, blieb Ruth stocksteif hinter ihnen stehen, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepreßt.
Die kühle Luft auf der bloßen Haut tat Sondra gut. Sie fühlte sich ganz leicht.
»Wie fühlt sich’s an?« fragte Mickey.
»Als hätte man mich endlich aus der Einzelhaft entlassen. Die Dinger machten mir richtig Platzangst.«
Mickey schaute auf die
Weitere Kostenlose Bücher