Herzflimmern
schmale Hand, die leblos in Sondras Schoß lag. Eine schöne Hand, dachte sie, trotz der feinen Narben und der hellen Flecke, die durch die Transplantationen entstanden waren. Eine Hand, mit der Mickey aufs innigste vertraut war, die sie neu geschaffen, dem Auge wieder gefällig gemacht hatte. Das krönende Ergebnis nicht fünfmonatiger Arbeit, sondern achtzehnjährigen Medizinstudiums. Mickey verspürte plötzlich Stolz, das erwärmende Gefühl, etwas geleistet zu haben. Dies war der Sinn ihres Lebens. Wenn jetzt nur …«
»Was hast du für ein Gefühl?« fragte sie. »Willst du versuchen, sie zu bewegen?«
Sondra blickte auf die reglose Hand hinunter und empfand plötzlich eine Furcht, die ihr ganz neu war. Sieben Monate lang hatte sie gewußt, daß dieser Augenblick kommen würde. Aber jetzt, wo er da war, hatte sie unerklärlicherweise Angst.
»Kannst du die Finger bewegen?« fragte Mickey leise.
»Ich weiß nicht. Es ist so lange her, seit ich meine Finger das letztemal bewegt habe, daß ich gar nicht mehr weiß, wie das geht.« Sondra lachte zitternd.
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»Verdammt noch mal, was ist eigentlich mit dir los?« schrie Ruth.
Sondra und Mickey fuhren erschrocken herum. Ruths Gesicht war leichenblaß, die Augen groß und dunkel. Die Arme hingen ihr starr an den Seiten herab, die zu Fäusten geballten Hände zitterten.
»Wie kannst du nur lachen?« rief sie. »Wie kannst du darüber lachen? Mein Gott, du tust geradeso, als wäre das gar nichts. Ich versteh’ dich nicht, Sondra. Wie kannst du diese gemeine Grausamkeit, die dir widerfahren ist, so ruhig hinnehmen?«
»Ruth«, flüsterte Mickey bestürzt.
Die dunklen Augen voller Schmerz und Verwirrung füllten sich mit Tränen. Die Stimme zitterte.
»Du hast deinen Mann verloren, Sondra. Weißt du das nicht? Du hast ihn verloren. Er kommt nie, nie zurück. Wie kannst du hier sitzen und lachen und darüber scherzen, was aus deinem Leben geworden ist?«
Ruth schlug die Hände vor ihr Gesicht und fing an zu schluchzen.
Mickey, die Ruth nie zuvor hatte weinen sehen, starrte sie einen Moment lang verblüfft an, dann sprang sie auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. Aber Ruth wich zurück. Sie riß die Hände vom tränennassen Gesicht. Es war wutverzerrt.
»Und du bist genauso verrückt wie sie! Wie kannst du so gottergeben und gelassen sein? Du hast nie gekriegt, was du wolltest. Du hast das Kind nie bekommen, das du dir gewünscht hast. Wie könnt ihr beide das nur alles so hinnehmen? Das Leben ist pervers!«
Als Ruth sich umdrehte, um die Treppe hinaufzulaufen, packte Mickey sie beim Arm und hielt sie fest. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke in stummem Kampf, dann brach Ruth völlig zusammen. Ihr ganzer Körper wurde schlaff, sie fing an zu zittern, ihr Gesicht verzog sich zum Weinen. Einen Augenblick später lag sie schluchzend in Mickeys Armen.
So standen sie eine Weile, während Ruth alles herausließ: das Gift, die Wut, die Bitterkeit und die tiefe Niedergeschlagenheit, die sich in ihr angestaut hatten.
»Ich will ihn nicht verlieren«, rief sie schluchzend. »Ich liebe Arnie und ich weiß nicht, wie ich ihn halten soll.«
Mickey zog Ruth mit sich hinunter auf die Stufe und legte ihr den Arm um die Schultern.
»Rede mit ihm, Ruth. Du hast ihn noch nicht verloren. Arnie ist ein feiner Mensch. Er wird dir zuhören.«
Ruth kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, schneuzte sich und schüttelte den Kopf.
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»Ich hab’ solche Angst. Nie im Leben hab’ ich solche Angst gehabt. Ich hab’ das Gefühl, als hätte man mir plötzlich den Boden unter den Füßen weggezogen und ich treibe im luftleeren Raum.« Ihre Stimme wurde leise, als sich die Spannung löste. »Es tut mir leid, daß ich so wild geworden bin. Ich hab’ das nicht so gemeint, was ich gesagt habe. Ich bin nur so durcheinander.«
»Ist ja nicht schlimm«, meinte Mickey.
»Ich weiß nicht, wie du das schaffst, Sondra. Woher nimmst du den Mut?« Ruth sah sie aus geschwollenen Augen an. »Was ist, wenn deine Hände nicht mehr werden? Wenn alles umsonst war?«
Sondra sah sie einen Moment stumm an, dann schaute sie auf ihre leblose Hand.
»Ach, die werden schon wieder.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil – weil ich in dieser hier Leben spüre.«
»Leben? Was denn für Leben? In so einer Hand! Sie wird immer nur ein ungeschicktes, unkoordiniertes Werkzeug bleiben, bestenfalls zur Ausführung der simpelsten Funktionen gut. Wie willst du mit diesen Händen
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