Herzgespinst - Thriller
wie seinen Sohn geschätzt hatte. Wäre er noch am Leben, würde er sich mit Oliver über die neue Band und seine Zukunftspläne freuen.
Oliver atmete erleichtert aus. Die schrecklichen Jahre waren endlich vorüber.
Er schloss zufrieden die Augen und machte es sich auf dem Stroh gemütlich. Schon halb im Traum hörte er Lottes fröhliches Lachen. Im selben Augenblick schlummerte er bereits tief und zufrieden.
13
J ulia konnte einfach nicht schlafen.
Immer wieder schreckte sie in ihrem Bett hoch und schnappte nach Luft. Sie hatte plötzlich eine völlig absurde Angst zu ersticken.
Oder erstickt zu werden.
Diese Gedanken hatte sie wirklich sehr lange nicht mehr gehabt. Es störte sie, dass sie so plötzlich und selbstverständlich wiederauftauchten, fast wie lästige alte Bekannte.
Beunruhigt schaute sie sich in ihrem dunklen Zimmer um.
Durch die feinen Lamellenschlitze der heruntergelassenen Jalousie drängte sich bereits die Morgensonne. Sie schlief nicht gerne im Dunkeln. Aber bei dieser schrecklichen Hitze blieben die Jalousien besser auch tagsüber geschlossen. Sonst hielt man es drin gar nicht mehr aus. Dabei war ihr Zimmer das schönste im ganzen Haus, denn es ging nach Süden hinaus.
Früher war es einmal das Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen. In dem alten Bücherschrank, den Julia immer noch für ihre Schulsachen nutzte, hatte er die Buchhaltung, Fotoalben und seine Lieblingsbücher untergebracht, und als Julia noch klein war, hatte sie gerne darin herumgestöbert und an den staubigen Bücherseiten geschnuppert. Wenn er Zeit hatte, schaute er mit ihr ein Fotoalbum an, in das er sorgfältig Kinderbilder von Julia eingeklebt hatte. Zu jedem Foto konnte er eine Geschichte erzählen.
Die Angst vor der Dunkelheit hatte sofort begonnen, nachdem er gestorben war. Ausgerechnet damals hatte sie eine heftige Sommergrippe gehabt und war völlig dehydriert, sodass sie eine Weile im Krankenhaus bleiben musste. Auch sonst war es ihr richtig mies gegangen und sie konnte keine zwei Schritte alleine gehen.
Sogar das Begräbnis ihres Vaters verpasste sie deswegen.
Wobei sie heute selber fand, dass verpassen das Ereignis nicht wirklich richtig benannte. Aber verpassen war das allererste Wort, das ihr damals durch den Kopf geschossen war:
»Ja, aber, dann verpasse ich ja alles …«, hatte sie erschreckt ausgerufen.
Weder der Chefarzt oder die Schwestern im Krankenzimmer, nicht einmal ihre Mutter, waren wegen dieser Formulierung auf sie böse gewesen und niemand hatte sie zurechtgewiesen.
Obwohl, das stimmte nicht ganz. Oliver war ja auch dabei gewesen und der flüsterte leise aber deutlich: »Ein Begräbnis ist doch kein Rockkonzert«, und dabei hatte er sie bitterböse angeschaut.
Auch er hatte zwei Nächte im Krankenhaus verbringen müssen, weil er einfach umgekippt war, als er ihren toten Vater fand. Ach nein, natürlich nicht sofort. Vorher hatte er noch von einer Telefonzelle aus den Notruf alarmiert. Er war also eigentlich ein richtiger Held, auch wenn es nichts mehr genützt hatte. Zu dem Begräbnis war er aber wieder auf den Beinen gewesen.
Weil Julia im Krankenhaus nicht schlafen konnte und die Vorhänge wegen der Hitze zugezogen blieben, bat sie um ein Schlafmittel. Aber die Ärzte wollten ihr einfach keines geben.
Sie konnte bis heute nicht verstehen, warum.
Damals war sie fest überzeugt gewesen, dass die Ärzte sie nur ärgern wollten. Vielleicht wegen diesem dummen Satz.
Das war im Nachhinein betrachtet natürlich völliger Unsinn. Mittlerweile wusste sie, dass es einen anderen Grund dafür gegeben hatte. Die Sache mit der Überdosis. Sie schämte sich bis heute für ihre Schwäche.
Stattdessen erschien überraschend Lotte im Krankenhaus.
Julia bat sie, ihr eine Taschenlampe zu besorgen und damit erlöste Lotte sie von ihrer Schlaflosigkeit.
Zum Einschlafen tauchte sie in eine heiße Bettdeckenhöhle unter und knipste die Taschenlampe an. Der Batterieverbrauch musste enorm gewesen sein, grübelte Julia. Aber Lotte hatte gewissenhaft für Nachschub gesorgt, bis Julia endlich wieder nach Hause entlassen wurde.
Julia hatte keine Ahnung, warum ihr das alles ausgerechnet heute einfiel.
Sie fand die Erinnerungen daran nicht angenehm, und sie spürte plötzlich erneut dieses schreckliche Rauschen in ihrem Kopf, das sich bis in die Ohren fortsetzte. Es hörte sich an wie ein gigantischer Wasserfall und wirbelte ihre Gedanken wild durcheinander.
Im gleichen Moment musste sie bereits wieder
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