Herzgespinst - Thriller

Aber vielleicht hat diese Grippe die Erinnerungen an den Unfall wieder wachgerufen, sie hatte damals eine Art Gedächtnisverlust.«
    Der Arzt nickte zustimmend. »Ich finde Ihre Überlegungen gar nicht so dumm. Zumindest wäre das eine Erklärung für ihre heftige Reaktion. Wollen sie einen Fachmann konsultieren? Dann stelle ich eine Überweisung aus.«
    Julias Mutter dachte stirnrunzelnd nach. »Ich möchte das nicht dramatisieren«, sagte sie schließlich. »Meine Tochter ist normalerweise nicht so labil. Ich suche nur nach einer Erklärung für mich selber.«
    Der Arzt lächelte sie beruhigend an. »Ich weiß, was Sie meinen. Muss ja nicht gerade der Schulpsychologe sein, außerdem gibt es die ärztliche Schweigepflicht. Ich gebe Ihnen die Nummer eines guten Kollegen. Wenn Sie ihm meinen Namen nennen, bekommen Sie auch einen kurzfristigen Termin.« Er notierte eine Telefonnummer auf seiner Visitenkarte und legte sie auf den Küchentisch.
    Dankbar brachte Julias Mutter den Arzt zur Tür und verabschiedete sich herzlich von ihm.
    Danach warf sie noch einmal einen Blick in Julias Zimmer.
    Julia lag bäuchlings auf ihrem Bett und bewegte sich nicht. Anscheinend schlief sie endlich. Liebevoll deckte ihre Mutter sie zu und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.
    Morgen begann der große Bauernmarkt in der Kreisstadt. Um ein gutes Geschäft zu machen, musste sie eine Woche lang jeden Abend so viel frisches Gemüse wie möglich ernten. Dann hieß es um vier Uhr aufstehen und den klapprigen Bulli beladen, damit sie spätestens um sechs Uhr morgens mit dem Verkauf beginnen konnte – vor der großen Hitze. Hoffentlich machten das ihre Bandscheiben mit.
    Mit Julias Hilfe konnte sie nicht rechnen. Aber gegen Rückenschmerzen gab es schließlich Tabletten. Sie hatte schon ganz andere Sachen durchgestanden.
    Julias Genesung war im Augenblick das Allerwichtigste. Alles andere würde sich schon irgendwie fügen.
    Sie ging in den Keller und begann die eingemachten Gemüse und Marmeladen nach oben zu schleppen.
    Das war eine echt schweißtreibende Arbeit, die sie ganz in Anspruch nahm und sie deshalb wenigstens für eine kurze Zeit die Sorgen vergessen ließ, die ihr seit ein paar Tagen ziemlich zu schaffen machten.
    Es war mitten in der Nacht, als Julia aufwachte.
    Die quälenden Gliederschmerzen waren verschwunden, und auch das Rauschen in ihrem Kopf war verstummt.
    Anscheinend hatte ihre Mutter die Jalousien hochgezogen und die Fensterflügel geöffnet, denn der milchige Mond leuchtete trübe in den Garten und auf ihr Bett.
    Überrascht setzte sie sich auf und schaute hinaus.
    Sie fühlte sich nach ihrem Tiefschlaf wie neugeboren und vor allem … rachsüchtig.
    Der Arzt hatte ihr mit seinem bohrenden Blick höllisch Angst eingejagt, aber er hatte mit seiner Diagnose den Nagel auf den Kopf getroffen. Während Julia das Gespräch in der Küche Sekunde für Sekunde wachsamer belauschte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, was mit ihr los war.
    Am Anfang war sie noch furchtbar wütend gewesen, weil ihre Mutter Oliver und Lotte ins Spiel gebracht hatte. Jetzt war sie froh, dass der Arzt so knallhart mit seiner Diagnose gewesen war.
    Schlagartig war Julia klar, wie sehr es sie gedemütigt hatte, den Kuss zwischen Oliver und Lotte zu beobachten.
    Nie zuvor hatte sie sich so schlecht gefühlt.
    Nachdem nun das Rauschen in ihrem Kopf endlich verschwunden war, spürte Julia wie durch ein Wunder keinen Liebes kummer mehr, sondern nur noch jede Menge Liebes wut .
    Sie bereute trotzdem nicht, dass sie den beiden heimlich hinunter an den Fluss gefolgt war. Wenigstens hatte sie Gewissheit. Die eigentliche Schuld trug natürlich Lotte. Daran gab es keinen Zweifel.
    Sie hatte mit diesem Kuss nicht nur ihr Versprechen gebrochen, sondern damit auch ihre Freundschaft für immer und ewig zerstört. Das war nicht fair.
    Allerdings konnte es nicht sehr lange dauern, bis Oliver dahinterkam, was Lotte für eine falsche Schlange war. Julia würde bestimmt etwas einfallen, das ihm die Augen öffnete. Vielleicht konnte sie sogar Luis dafür einspannen.
    Eine schwarze Wolke schob sich über den halben Mond und es wurde schlagartig dunkel in ihrem Zimmer. In derselben Sekunde sprang ihr Kater Fredo mit einem geschmeidigen Satz durch das offene Fenster ins Zimmer und machte es sich schnurrend auf ihrer Bettdecke bequem.
    Er kam von der Jagd und roch nach Unterholz und Abenteuer.
    Julia streckte die Hand nach ihm aus und er leckte ihr vertrauensvoll die