Herzgespinst - Thriller
angesagt. Sie suchen einen neuen Sänger. Das ist meine Chance.«
Er entdeckte die Blutflecken auf seiner Hand und entfernte sie mit Spucke und einem Büschel Stroh.
»He, cool, Mann!« Julia sah Oliver bewundernd an. »Du willst echt loslegen, was?«
Oliver nickte entschlossen. »Irgendwas muss ja endlich passieren. Ich krieg ’ne Krise hier in dem Kaff. Seit meine Mutter nicht mehr arbeitet, ist es zu Hause unerträglich.«
Früher hätte Julia zu ihm gesagt, dann komm doch zu uns. Dort gefällt es dir doch sowieso viel besser.
Aber diese Zeiten waren vorbei.
Seit dem Unfall war alles anders geworden. In jeder Beziehung.
Das Glücksgefühl über ihr allererstes Piercing war wie weggewischt. Stattdessen fühlte sie in ihrem Inneren einen tiefen Schmerz, dessen Ursache sie nicht benennen konnte.
»Na dann. Hau rein«, sagte sie kühl. »Man sieht sich. Spätestens morgen früh in der Schule, wenn du nicht wieder zu spät kommst.« Sie blieb regungslos stehen.
Oliver berührte sanft ihren Scheitel. »He, alles klar? Kommst du wirklich allein nach Hause? Kauf sofort das Spray, kann sonst üble Entzündungen geben. Versprochen?«
Er schaute sie an, wie sie vor ihm stand, mit hochgezogenen Schultern, ein trauriges kleines Mädchen mit blutigem Nabel.
Schuldbewusst ergriff er ihre Hand. »Es tut mir so leid, das ist wirklich ein blödes Timing. Aber ich weiß einfach nicht, wie lange die Jungs in der Stadt bleiben.«
Julia zog ihn an sich und küsste ihn aufs Ohr. »Na klar. Kein Problem. Zisch ab, Bruder.« Sie ließ ihn nur ungern los.
Oliver stieg auf sein Rennrad und trat kräftig in die Pedale.
Julia sah ihm nach, bis nur noch ein winziger Punkt von ihm zu erkennen war.
Er hatte sich kein einziges Mal umgedreht.
3
O liver schaute immer wieder auf seine Armbanduhr, während er mit aller Kraft in die Pedale trat. Er hatte die Zeit übersehen, so ein Mist. Querfeldein fuhr er über den ausgelaugten Ackerboden, um die Strecke abzukürzen. Hoffentlich hielten die Reifen seines Rennrades durch.
Überraschend begann es in einiger Entfernung zu donnern, sogar Blitze zuckten vereinzelt am Himmel auf. Ausgerechnet jetzt, nach Wochen glühender Hitze und keinem Tropfen Regen. Er musste die Jungs unbedingt noch erreichen, ehe sie wieder zurück in die Großstadt abhauten. Und bevor der große Regen kam.
Er hatte so gehofft, sie endlich zu treffen. Bosse hatte den Kontakt für ihn gemacht und ihnen seine Tapes geschickt. Dieses Treffen war seine große Chance.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Julia ausgerechnet heute das Piercing zu stechen. Aber er konnte diesem Mädchen einfach nichts abschlagen. Das war schon immer so gewesen. Sie hatte sich so darauf gefreut und wenn sie ihn aus ihren blauen Augen anschaute, war es um ihn geschehen.
Nein. Er war nicht in Julia verliebt. Auch wenn manche Leute darüber blöde Witze rissen. Julia war wie seine Schwester, Teil einer Familie, die er sich genau so immer gewünscht hatte.
Als Julias Vater vor drei Jahren unter den Mähdrescher geriet und starb, hatte Oliver gedacht, er würde selber sterben. Er hatte alle Menschen dafür gehasst, dass sie noch atmeten. Selbst seine eigene Mutter.
Damals bildete sich Oliver ein, dass nur er selber trauern durfte, weil er Julias Vater am allermeisten geliebt hatte und diese perfekte Familie nun für immer zerstört war.
Besonders Julia konnte er nicht mehr ertragen. Ihre Stimme, ihre traurigen Augen, sogar ihren Duft. Alles an ihr schmerzte ihn.
Am liebsten hätte er sie getötet, um jede Erinnerung für immer auszulöschen.
Im Nachhinein waren diese Gefühle natürlich schierer Unsinn. Teil einer tiefen Trauer.
Der Psychologe, mit dem er damals ein Jahr lang jede Woche über seine enge Beziehung zu Julias Vater gesprochen hatte und der vom Jugendamt bestimmt worden war, Oliver wieder auf Spur zu bringen, hatte ihm das alles ganz genau erklärt. Und langsam vernarbte die Wunde.
Zum ersten Mal seit dem Unfall hatten sie sich heute alleine verabredet und es war schön gewesen. Julia war wieder seine kleine Schwester, die er gernhaben konnte und die er beschützte. Ihr Vater war tot.
Mit dem ersten Schauer erreichte Oliver den Brunnen in der Stadt. Das war ein bekannter Treffpunkt für junge Leute. Momentan hatten sich allerdings die meisten von ihnen in die Cafés rundherum verzogen, um nicht klitschnass zu werden. Oliver stellte sein Rennrad ab, blieb auf den Treppen stehen, die zu dem Wahrzeichen der Stadt, einer
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