Herzgrab: Thriller (German Edition)
Glück kaum fassen. Sie war frei! Sie musste nur noch einen Weg aus diesem Irrenhaus finden. Eine letzte Kraftanstrengung noch, bläute sie sich ein. Jetzt durfte sie bloß nicht zusammenbrechen. Für einen Augenblick musste ihr Körper noch einmal alle Reserven hochfahren.
Sie zwängte sich an der Stehlampe vorbei und stieg über den Körper des alten Mannes. Durch Nahrungsmangel, Wasserentzug und Blutverlust geschwächt schob sie sich an der Wand Stufe um Stufe nach oben. Wach bleiben, schärfte sie sich ein. Du schaffst es.
Nach über dreißig Stufen erreichte sie eine Falltür aus Holz. Wo zum Teufel befand sie sich? Immer noch in einem Keller. Das Licht von Neonröhren riss gewölbeartige Räume mit Rundbogen aus der Dunkelheit. Alles war in rötliches Licht getaucht. Farbeimer standen herum. Sie wankte durch die Räume … nichts als Regale mit Kanistern und Einmachgläsern. Endlich fand sie eine Treppe, die nach oben führte.
Darüber lag eine Wohnung.
Eine Wohnung! Tageslicht fiel in die Räume.
Ein Fernsehgerät, eine Küchenzeile, ein zerschlissener Liegestuhl. Im Schrank befanden sich gewiss Kleider. In der Küche bestimmt ein Laib Brot. Doch sie wollte nur raus und dieses Höllenhaus so schnell wie möglich verlassen, bevor der Glatzkopf zurückkam und sie wieder in den Keller zerrte.
Unschlüssig sah sie sich um. Da hörte sie plötzlich ein Geräusch aus dem Keller. Lyashenko rappelte sich auf. Panisch wankte sie durch die Wohnung und fand schließlich einen Vorraum mit einem wuchtigen Holztor. Sie stützte sich auf die Klinke und zog die Tür auf.
Kühle Luft und ein Dunst nach Kloake schlugen ihr entgegen. Sie befand sich in einer Gasse. Das war Florenz. Himmel, sie war mitten in Florenz! Die Via dei Girolami. Sie wusste, wenn sie geradeaus lief und sich links hielt, würde sie den Ponte Vecchio erreichen. Nach der diesigen Luft zu schließen, brach soeben der Morgen an. Feiner Nieselregen lag in der Luft. Sie trug nur ihren schmutzigen Slip und fröstelte.
Sie musste den Ponte Vecchio erreichen. Dort waren Kinder, Touristen und Ladenbesitzer. Dann wäre sie in Sicherheit.
» Du Schlampe! « , drang es aus dem Haus. Hinter ihr polterte Lyashenko durchs Haus.
Sie presste eine Hand auf die Schnittwunde an ihrem Bauch und lief über die Straße. Ihr Slip war bereits mit Blut vollgesogen. Sie spürte den kalten Wind im Schambereich. Mit nackten Füßen, dreckig und frierend lief sie zur nächsten Kreuzung. Die kalte Luft ließ sie taumeln. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Was würde sie sehen? Einen vor Wut, Hass und Mordlust bebenden Lyashenko mit blutüberströmtem Gesicht, der sie auf der Stelle packen, wieder ins Haus und in den Keller zerren würde.
Sie sah die ersten Menschen im Morgengrauen auf dem Ponte Vecchio. Da wurde ihr schwarz vor Augen. Ihr drehte sich alles. Nein, bloß nicht ohnmächtig werden! Sie stolperte über das Kopfsteinpflaster, wollte den Arm heben und um Hilfe rufen, da hörte sie das Quietschen von Autoreifen.
Die Stoßstange des Wagens erfasste sie und schleuderte sie wie eine Schaufensterpuppe über die Pflastersteine.
53
Monica Del Vecchio starrte entsetzt auf Lyashenkos gebrochene Augen.
Scatozza legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie sanft von der Leiche weg. » Ich bringe Sie von hier fort. «
Monica reagierte nur mit einem apathischen Blick.
» Fahr mit ihr zum Landsitz ihrer Familie. Ihre Großmutter Zenobia erwartet sie bereits « , schlug Elena vor.
Monica hatte die ganze Zeit über nichts gesagt. Erst jetzt machte sie den Mund auf. » Ich fahre sicher nicht zu meiner Großmutter. «
» Wohin sonst? « , fragte Gerink.
» Ich könnte Sie in Florenz zu Ihrer Tante Beatrice bringen « , schlug Scatozza vor.
Monica nickte, und Scatozza schob sie zum Treppenaufgang, der in die Wohnung darüber führte. Er blickte sich noch einmal um. » Kommt ihr nicht mit? «
Gerink lief wie ein Tiger durch den Raum. » Einige Leute haben sicherlich die Schüsse gehört. Ich schätze, die Carabinieri sind in fünf bis zehn Minuten hier. Wir haben nur jetzt die Möglichkeit, uns alles anzusehen. «
» Sehe ich genauso « , pflichtete Elena ihm bei. » Sind die Carabinieri erst einmal hier, haben wir keinen Zutritt mehr zum Haus. Im Gegenteil, ich würde erneut in U-Haft sitzen. «
» Wir auch. « Gerink hob den Blick. » Diesmal länger, weil wir einen Mann erschossen haben. Besser, du fährst mit Dino. «
Elenas Blick wurde hart. » Keine Chance.
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