Herzklopfen für Anfänger
Viel zu perfekt. Viel zu nett. Wie hältst du es nur mit mir aus? Verzeihst du mir?«
Er küsste mich auf die Wange und tätschelte mir wieder die Schulter.
»Ja, ich verzeihe dir«, sagte ich. »Es war meine Schuld. Tut mir leid.«
Der letzte Satz entsprach in seinem Kern der Wahrheit. Der erste allerdings nicht, und das bereitete mir Sorgen.
Mittlerweile war es fast fünf, und ich fragte mich, ob ich wieder zur Arbeit fahren sollte. Aber da diese Überlegung eher etwas damit zu tun hatte, wen ich dort vorfinden würde, fuhr ich nach Hause. Donnerstags mache ich normalerweise Großeinkauf, aber da Jonathan weg war, hatte ich nichts zu tun.
Im Haus gab es nichts Interessantes zu essen, also holte ich eine Pastete aus dem Tiefkühler. Hühnchen und Mais. Ich hasste Mais. Wer hatte diese grässliche Pastete gekauft? Wahrscheinlich Jonathan, während ich weg war. Oder Kate. Irgendwie war das ein greifbarer Beweis dafür, dass wir uns als Familie zunehmend auseinanderentwickelten. Wir hatten nicht einmal mehr den gleichen Geschmack. Ich schob die Pastete in den Ofen, wusste aber bereits, dass ich sie nicht essen würde. Ich wollte nicht allein dasitzen und Maiskörner herauspicken. Aber es gab ja noch Merlin.
Abgesehen von seiner anspruchslosen und anbetenden Gesellschaft war ich allein. Kate hatte heute Abend Tanzunterricht – sie probten mittlerweile zweimal die Woche. Die Aufregung über die Produktion schlug solche Wellen, dass sogar an der Bushaltestelle ein Plakat hing. Aufregende Zeiten. Aber die Tanzaufführung fand erst in ein paar Wochen statt, und heute Abend war nichts los. Nichts im Fernsehen außer diesen platten Serien, die ich hasste und danach ein Quiz, was ich noch weniger mochte. Ich überlegte, ob ich vielleicht meine Mutter anrufen und mich über das Frauenhaus aufs Laufende bringen lassen sollte, aber wahrscheinlich war sie gerade beim Tai-Chi. Wenn sie mich dann zurückrief, war es womöglich Gott weiß wie spät. Nein, ich würde meine Mutter nicht anrufen. Ich würde mich hinsetzen und ein gutes Buch lesen.
Da es Ende Mai und ziemlich warm war, setzte ich mich in den Garten. Wir haben ein hübsches Haus. Siebzig Jahre alt und umgeben von einem leicht hügeligen Garten, der an zwei Seiten bis an die Felder geht. Um diese Jahreszeit blühte die Clematis in einer Explosion von rosa Blütenblättern, die merkwürdig nach Schokolade rochen, gerade vom Wind heruntergeweht worden waren und wie Blütenschnee auf dem Boden lagen. Jonathan würde sie bestimmt bald gereizt wegkehren. Ich blickte zum Himmel. Heute sah man nicht viel. Der Tag war zwar klar gewesen, aber nun verdunkelte hohe Bewölkung den Abendhimmel.
Ich dachte darüber nach, ob ich Nick Brown eine SMS schicken sollte.
Wenn man eine vernünftige, rationale Person ist, kann man vernünftig und rational über Dinge nachdenken. Man kann sich in die Zukunft hineinversetzen und sich eine Situation vorstellen, in der, sagen wir mal, ein Anzug eine Rolle spielt, der einen Streit hervorruft. Die Details sind irrelevant, wichtig ist das Kräftespiel. Nur wenige unter uns können damit rechnen, den Rest ihres Lebens zu verbringen, ohne Streit mit den Personen zu bekommen, denen sie nahestehen.
Allerdings war ich mittlerweile bei meinem dritten Pimm’s und immer noch sehr verärgert über Jonathan – unsere Projektionen basierten, wie die Gewinnberechnungen von Lebensversicherungen, auf ziemlich optimistischen Annahmen und waren als Vorhersageinstrument so akkurat wie durchsichtige Vorhänge. Deshalb dachte ich auch nicht vernünftig und prosaisch, sondern ich dachte hypothetisch. Ich dachte einfach immer nur nein, nein, nein, nein! Mit jemandem wie Nick Brown würde ich mich, meiner hypothetischen Voraussage nach, nicht auf Streitigkeiten über die Reinigung einlassen, weil Reinigung überhaupt nie ein Thema für uns wäre. Ebenso wie Abfalleimer, Einkäufe, Ameisenplagen oder die korrekte Art, ein Hemd zu bügeln. Nein, nein, nein, nein. Denn in der Welt meiner Wunscherfüllung würde ich genauso sein, wie ich eigentlich in den achtzehn Jahren meiner Ehe hätte werden wollen: selbstbewusst und verantwortlich für mein eigenes Schicksal. Und die Hausarbeit würde ich nach meinen Vorstellungen regeln.
So schob ich alle realistischen Vorstellungen einfach beiseite und dachte, dass ich Nick Brown auch eine SMS schicken konnte, wenn am Himmel nicht so besonders viel los war. Ich konnte mich doch einfach bei ihm bedanken.
Mit diesem Gedanken
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